Seit einiger Zeit lese ich in Hitlers «Mein Kampf». Der Inhalt ist bekannt. Nebenbei erhält man Einblick in das Innerste dieses Menschen. In sein Herz. Wenn man sich Hitler so annimmt, ist auf Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Das ändert nichts daran, dass wir in den weltweiten Verhältnissen für heute wie für morgen einen Humanismus nötig haben, der auch Tätern zugutekommt.
Hitlers Text wird nur kommentiert freigegeben. Damit möchte man wohl vermeiden, dass er eine politische Sogwirkung entfaltet wie damals. Tatsächlich lassen sich einige Irrtümer mit ein, zwei Fussnoten klarstellen. Zum Beispiel als Hitler die fehlenden Sozialgesetze der Donaumonarchie beanstandet [Bd I, p 155]. So wird man darüber in Kenntnis gesetzt, dass es Unfall- und Krankenversicherung für die Arbeiterschaft seit 1888 per Gesetz schon gab. Ob sie auch umgesetzt wurden, darüber gibt die Fussnote keine Auskunft.
Auch als Hitler in jungen Jahren beim Besuch des Wiener Parlaments zu seinem Entsetzen mehr Tschechisch als Deutsch zu hören bekommt, wird man über den simplen Proporz aufgeklärt, der Hitler offensichtlich nicht geläufig war. Entsprechend ihrer Einwohnerstärke als Teil der KuK-Monarchie waren mehr tschechische Abgeordnete im Parlament vertreten als Mandatsträger deutschstämmiger Österreicher. Für Hitler ein Beleg mehr für die vorsätzliche Bedrohung seiner Bevölkerungsgruppe.
Manche Stellen in diesem Text machen einen schmunzeln, andere jedoch betreten darüber, wie sehr sich ein Mensch mit seinen Mitteln und von seiner sozial halbversunkenen Warte aus um Klarheit bemüht. Wieder andere wecken ein Mitgefühl, das umso eigenartiger anmutet, als es sich beim Autor um den Volksverbrecher schlechthin handelt. So etwa diese:
Im Rückblick auf Armut und Hunger seiner Wiener Jahre schreibt Hitler, die «Not» habe ihn erneut «in ihre herzlosen Arme» geschlossen [Bd I, p 177]. Die linkische Metapher fällt sofort auf. Arme mit Herzen gibt es nicht. Und sie lässt leichterhand über den Abgrund hinweg triumphieren, der in dieser Textstelle deutlich wird: Das Innerste, was Hitler bewegt, sein Herz somit, ist die Erfahrung von Herzlosigkeit.
Dieser Mensch sieht sich von etwas umarmt, das kein Herz hat.
Damit wird nicht nur die Metapher zurechtgerückt. Es lässt tiefer blicken, als man sich vielleicht zutraut. Man darf diese Kälte, diese Todesangst für ein umsichtiges Verständnis ruhig sich selbst zu Herzen gehen lassen. Und so kommt es mir vor, als blickte ich in den innersten Bereich des Faschismus selbst.
In sein Herz.
Man sei erinnert: Etwas verstehen bedeutet nicht, dass man es damit entschuldigt. Wenn ich nachvollziehe, dass jemand, der Kinder missbraucht, den Übergriff, den er selbst erfahren hat, mit vertauschten Rollen neu inszeniert, damit er zu sich selbst kommt, heisst das nicht, dass ich dieses Vorgehen dadurch entschuldige oder gar billige.
Das Herz Hitlers ist das Herz des Faschismus, nämlich die Erfahrung von Herzlosigkeit, die tödlich ist.
Ob dieses Herz selbst von Grund auf ein Herz der Finsternis ist, lasse ich aus Rücksicht auf die genannten Empfindlichkeiten unbesprochen.
Für uns geht es um Politik. Um Regeln des Zusammenlebens. Und die Frage, die sie zu stellen hat, lautet nicht mehr, wie wir es schaffen, unser Gemeinwesen in Versorgung, Sicherheit und alldem bestmöglich abzusichern. Dieses Geschrei kennt man zur Genüge von Wahlkämpfen her.
Vielmehr lautet die eigentliche politische Frage: Wie schaffen wir es, dass andere Gemeinwesen, Minderheiten, Völker, Subkulturen, sich von uns nicht in Frage gestellt, nicht in ihrem schlichten Leben bedroht fühlen?
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