Der Humanismus ist als Grundfreiheit durchgesetzt. Im konkreten Leben jedoch befinden wir uns heute noch auf Hexenjagd. Im Kleinformat, ohne Beil und Feuer. Aber es wird psychologisiert und moralisiert, mit Häme, mit viel Druck. Auch die Moderne hat ihre Höllen, in denen Menschen Qualen ausstehen. So ist man leicht versucht, den Humanismus zu radikalisieren, damit er auch in diesen Niederungen Gehör bekomme.

Aber was radikal ist, bringt sich selbst in Gefahr. Das liegt daran, dass es einseitig ist, indem es mehr verbietet, als es gutheisst, mehr ausräumt, als einbezieht. Längerfristig hält nichts Radikales dem Druck stand, den es auslöst. Ich kenne kein Beispiel von Radikalität, das je überlebt hätte.

Radikales wird irgendwann radikal bekämpft.

Man könnte stattdessen von einem konsequenten Humanismus sprechen. Aber da fällt mir Enzensberger ein, der die Formel erbracht hat, dass alles Konsequente in Zustände mündet, die für viele Beteiligte unwirtlich sind.

Gesucht ist ein Humanismus, der radikal nicht in dem Sinne wirkt, dass man die Dinge kopfüber verkehrt und mit Stumpf und Stiel ausrottet. Hingegen soll er der Sachlage insgesamt, also bis an ihre Wurzel lediglich eine Tönung beibringen.

Denn in seiner bisherigen Form, wie er auf Fahnen der Moderne geschrieben steht, birgt der Humanismus einen Widerspruch in seiner Wurzel. Er betrifft die Freiheit und die Art, wie wir mit ihr umgehen. Freiheit ist immer Wahlfreiheit. Das wäre eine logisch unsaubere Bestimmung von Freiheit, aber sie ist leicht verständlich. Die Moderne wird nur klar in ihrem Anliegen, wenn man Freiheit als Pflicht begreift, als Bürde jedes Einzelnen. Dort fängt die Wurzel an, die ich meine.

Kant meint sogar, wir hätten einen freien Willen. Aber es hiesse ihn falsch verstehen, wenn man glaubt, dieser Wille entstehe in uns aus Freiheit, als würde er sich bar jeder Bestimmung in uns regen. Ein Impuls, folgenschwer, aber ohne Ursache, deckt sich mit dem, wie wir Gott begreifen. Und das nährt meinen Verdacht, dass die naive Auffassung von Freiheit die Verkehrung Gottes in die menschliche Intimität bedeutet. Nach antiker Auffassung eine Hybris schlechthin, ein Auswuchs von Überheblichkeit, der natürlicherweise zurechtgestutzt wird. Auch die Wissenschaft nimmt Abstand davon, weil sie nur Ketten von Ursache und Wirkung, von Grund und Folge kennt. Daher weist sie Freiheit als Lesart ihrer Daten zurück.

Freiheit als Pflicht sollte kaum verwundern, denn Pflichten bilden immer die Kehrseite von Rechten. Kein Recht ohne Pflicht. Freiheit als Pflicht bedeutet demnach Wahlpflicht. Die Berufswahl eignet sich als typisches Beispiel dafür: Wir wählen einen bestimmten Beruf, doch zu dieser Wahl sind wir verpflichtet, weil das Gemeinwesen alle zur Kasse bittet. Der Spielraum unserer Freiheit leidet noch weitere Beschränkungen: Wir wählen Mittel zu bestimmten Zwecken, die Zwecke selbst wählen wir nicht. Sie sind uns von unserer Bedürfnisnatur auferlegt: Versorgung in mehrfacher Hinsicht, Sicherheit, Wahrnahme, Anerkennung. Das versteht sich von selbst. Ich meine, umso denkwürdiger ist es.

Sofern wir frei sind, wählen wir unter Möglichkeiten aus, die uns zugänglich sind. Freiheit als Pflicht bedeutet letztlich, dass wir diese Wahl auch verantworten. Die Kehrseite moderner Freiheit als Errungenschaft lautet Haftbarkeit. Wer frei wählt, hat dafür gerade zu stehen. Die Alternative wäre Bevormundung. In einer Diktatur hat niemand Verantwortung, ausser der souveräne Herrscher. Deshalb wird er auch gerne geköpft. Moderne Freiheit meint Souveränität für alle und damit Verantwortung und Haftbarkeit für alle. Auch Kant geht es letztlich darum, wie man politischer Bevormundung zuvorkommt.

Mein Körper, meine Bedürfnisse als Zwecke meines Tuns, meine Herkunft, mein Erbgut, meine Erfahrungen, die genauso zufällig sind, bilden bloss die nötigen Voraussetzungen zur Freiheit, heisst es.

Diese Rahmenbedinungen aber wähle ich nicht. Niemand wählt sich selbst.

Und ich bezweifle, dass mein Wählen von diesen Rahmenbedingungen unabhängig geschieht. Auch hier wäre eine göttliche Abgelöstheit im Spiel, deren Möglichkeit von Seiten der Wissenschaft klar verneint wird. In der Regel gehen wir ungefragt davon aus, dass Voraussetzungen, Ausgangslagen, Umstände, Bedingungen mitbestimmen, was aus ihnen folgt: Rahmenlehrpläne werden angefertigt, weil man erwartet, dass sie in den Lernzielen, die von ihnen abgeleitet sind, prägenden Niederschlag finden. Andernfalls wäre es nutzlose Mühe. Oder was können Hochsensible dafür, dass sie konservative und restaurative Politik unterstützen? Progressive Programme erschrecken sie. Je nach Erfolg bereiten sie ihnen schlaflose Nächte. Che Guevara wuchs in einer Familie auf, wo man seit Generationen Widerstand gegen die etablierte Ordnung leistete. Sein typisches Vorgehen lässt sich von dieser Herkunft nicht abgekoppelt sehen.

Sie bleibt an ihm haften.

Und wenn wir Haftbarkeit so auslegten, bekämen wir einen Begriff davon, was die Hölle der Moderne bedeutet: Wir behaften uns gegenseitig auf Voraussetzungen, die wir nicht wählen, die uns eben anhaften. Und wir wälzen die ganze persönliche Verantwortung darauf ab. Das ist logisch falsch, was aufhorchen lässt, zumal die Moderne bei logischer Gewissheit Sicherheit findet statt bei religiöser Offenbarung.

Menschen haben nicht die Wahl, wie sie wählen. Herkunft, Erbe, Veranlagung, Empfindlichkeiten, aber auch Wahn, Trieb, Leidenschaft bestimmen mit, wie wir wählen.

Und wir sind nicht in der Lage, das einfach so zu ändern. Oder zeige mir jemanden, der sich von seinem Erbgut trennt? Der auf einmal nicht mehr auf sein Feingefühl hört?

Die Neurobiologie, die den freien Willen erst erledigt hat, verkündet seine Wiederentdeckung. Nun steht fest: Mein königliches Stirnhirn steuert Lüste und Ängste. Es unterdrückt sie, verzögert sie oder lässt sie absurren, sobald der Augenblick für passend errechnet wird. Doch die Freiheit dieses Willens hängt davon ab, wie ich seit meiner Kindheit von anderen Menschen behandelt wurde.

Dieser freie Wille ist also doch nicht so frei wie verkündet, denn niemand kontrolliert, wie ihm begegnet wird, als Kind schon gar nicht.

An diesem Punkt setzt ein radikaler Humanismus ein, indem die Freiheit grundsätzlich als beschränkt angenommen wird. Das empört viele, weniger aus dem Grund, dass sie ihre Würde beschmutzt sehen, sondern eher deshalb, wie ich vermute, weil damit auch die Haftbarkeit der einzelnen Person in Frage gestellt wird. Der eigentliche Adressat eines radikalen Humanismus ist denn auch nicht das Strafrecht, dieses ist ausreichend verfeinert. Es geht um das alltägliche, vorschnelle Moralisieren, das gewisse Personen in die Abschottung treibt, wo sie in Schuld und Scham verkommen.

Diesem Moralisieren bringt der radikale Humanismus die nötige Demut bei, damit es weniger Schaden stiftet, indem es kleinlauter wird.