my most precious liquid must never spill                                                                                                    Norma Jane Mortenson

Es gibt Personen, die bis ins Erwachsenenalter Geheimnisse von sich unter Verschluss halten. Für Intimpartner ist das schwer zu ertragen. Sie fühlen sich zurückgewiesen. Dabei übersehen sie die Tatsache, dass die Person, um die es geht, ihr Geheimnis grundsätzlich für sich behält. Statt Misstrauen wäre auch hier ein intimer Respekt gefragt. Was wäre das, wenn nicht Liebe? Aber wie kommt man dahin?

Das Intimste ist kein Organ und keine gefühlsduselige Tiefe. Es ist ein Schutzraum in uns. Einer meiner Vorfahren hiess Selim. Ein Schweizer, wohlgemerkt, wohnhaft in der Waadt. Seine Kinder taufte er Ali und Lydia, meine Urgrossmutter. Ein Geheimnis wird damit klar angedeutet, statt unter den Teppich gekehrt. Bei Nachfrage jedoch, warum der Bub so heisse, soll seine Mutter geantwortet haben, das gehe nur sie und Selim etwas an. Sie behielt ihr Geheimnis strikt für sich. Ein schwermütiger Vater weiss sehr genau Bescheid, was Übergriffe während seiner Kindheit vonseiten seiner Mutter angeht, über die in der nahen Verwandtschaft lediglich Vermutungen kursieren, aber er schweigt darüber. Seine Gattin findet, er müsse reden, schliesslich teilt sie ihr Leben mit ihm und seinen Prägungen, die sich zwangsläufig aus solchen Traumata ergeben. Folglich ginge sie diese Geschichte sehr wohl etwas an. Warum jedoch sollen Einzelheiten ans Licht?

Warum jedoch sollen Einzelheiten ans Licht? So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht, was genau bei einem Übergriff passiert und wie es abläuft. Und wie weit dies alles gegangen sein dürfte, lässt sich ja genau daran ablesen, dass der Vater beharrlich schweigt.

Also sehr weit. Man vermutet sogar, die Frau hätte ihren Sohn aus blanker Überforderung mittels Kissen zu ersticken versucht.

Die Dringlichkeit liegt also auf der Hand. Wozu noch weiter fragen? Mittlerweile sollte sich herumgesprochen haben, dass gesünder lebt, wer gewisse Vorkommnisse gezielt verdrängt. Zwar verlangt die Sache unverhofft Geltung, wie aus klinischen Kreisen gewarnt wird. Dann wirft sie einen für gewisse Zeit aus der Bahn. Ein Alltag jedoch ist unwürdig zu leben, bei dem man ohne Unterlass an diesen Vorkommnissen herumdeutelt und dazu Beratung aller Art einholt, obgleich die Debatten mit sich selbst und anderen einfach kein Ende finden. Nun meine ich aber Leute, die denkwürdige Ereignisse aus ihrem Leben genau kennen. Also verdrängen sie sie nicht. Das deckt sich mit Sartres Kritik am psychoanalytischen Konzept der Verdrängung. Wie könnte, so fragt Sartre, das Bewusstsein einen Trieb verdrängen, wenn es ihn nicht erkennt [p 128-29]? Seine Zensur wirkt nur, wenn es diesen problematischen Trieb von anderen Impulsen genau unterscheidet, um ihn dann zu verdrängen. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass Freuds Patienten über ihre schwierigsten Begebenheiten ihres Leben genau Bescheid wussten, sich aber enthielten, darüber zu reden. Wenn nun der Analytiker nach Monaten die Sachlage umkreiste und schliesslich dort eindrang, zeigte man sich betroffen und aufgelöst im erbärmlichen Unwissen einer gemarterten Seele, die gewisse Themen verdrängt. Man will ja nicht als Lügner dastehen, der immer so getan hat, als ob er nichts mehr wisse. Dennoch: Wie begegne ich Menschen, die sagen: Ich weiss genau Bescheid über mich in dieser oder jener Angelegenheit, aber ich erzähle dir nichts davon. Wie komme ich zu einem Respekt gegenüber dieser intimen Ökonomie statt zu Misstrauen infolge verletzten Stolzes?

Dazu fallen mir Bilder ein von Tieren, die einen bestimmten Lebensbereich reinhalten. Ein Paradiesvogel entfernt das kleinste Ästchen von seinem Balzplatz, damit das Weibchen die vitalen Farben seines Gefieders auf blankem Hintergrund blitzen sieht. Überhaupt wie Tiere ihre Eibestände oder die geschlüpfte Brut kokonartig von einer Umwelt abschirmen, aus der alles Mögliche hereinbricht. Ein Nistplatz, eine gepflegte Höhle, Fischeier in einem Teppich aus Bläschen, die an der Wasseroberfläche haften. Dann das Bild einer Laterne im Wind, aus Stahl gefertigt und mit dickem Glas versehen, damit das zarte Licht nicht ausgeht. Schliesslich das Bild innerster Kammern von Tempeln, in denen gut bewacht ein ewiges Feuer lodert.

Für gewisse Prozesse hält das Leben die Umwelt auf Abstand. Man könnte sie als eine Sortierung beschreiben, wie etwa die Tatsache, dass Hasen eine bestimmte Ecke ihres Käfigs und keine andere dem Stuhlgang vorbehalten. Dazu gehört auch die Trennung von Milchküche und Fleischküche im Judentum. Alles Eiförmige, alles Nestartige lässt sich in eine Entsprechung zu psychischen Belangen bringen, die zum gleichen Leben zählen. Dazu hilft ein Konzept von persönlicher Freiheit, das sich bei Peter Bieri findet. Tatsächlich hat das Verschweigen von brisanten Geheimnissen mit Freiheit zu tun, nämlich genau dann, wenn man eine intime Angelegenheit davor bewahrt, dass von aussen in sie reingequatscht wird.

Bieri betont [p 305], uns störe nicht etwa der Verlust an Willensfreiheit, wenn unsere Intimität aufgebrochen werde, sondern die Tatsache, dass uns die Wirkung, die unsere Durchsichtigkeit bei den anderen habe, von unserem eigentlichen Willen abbringen könne. Daher würden wir, wie Bieri weiter schreibt, uns gerade von denen entfernen, die uns am besten kennten.

Die Intimität mit ihnen könne die Intimität bedrohen, die wir mit uns haben.

Der Grund dieser Abschottung liegt nach Bieri darin, dass wir zu einer Entscheidung finden wollten, die ganz allein uns gehöre [Ebd. 305].

Dabei wird uns andauernd ans Herz gelegt, fremde Meinungen als Richtmass zuzulassen. Kritikfähigkeit nennt sich das. Nebst Transparenz und Flexibilität zählt sie zu den so genannten Schlüsselkompetenzen, die ein Portfolio aufzuweisen hat. Das ändert nichts daran, dass Personen, aber auch Völker oder Kulturen, einen innersten, meinetwegen heiligen Bezirk kennen, den sie wasserdicht vor fremden Einflüssen abschotten, ohne genau zu wissen, warum. Hier soll einfach nichts Fremdes Einfluss nehmen. Auch wenn es zur Zeit abartig klingen mag, so leuchtet mir durchaus ein, dass Putin um die russische Seele kämpft, wie man sagt. Das zuinnerst Russische, das ich bei Tarkowsky erkannt zu haben meine.

Norma Jane Mortenson, die im Rampenlicht sich beinahe auflöste und verzweifelt um Bildung rang, schrieb in ihr schwarzes Notizbuch anfangs der 50er-Jahre, ihr wertvollster Tropfen dürfe nie vergossen werden [p57].

Besser bekannt war sie unter dem Namen Marilyn Monroe.