Was Tarkowski in Bildern vermittelt, dürfte genau das sein, was Putin bissig verteidigt. Nämlich so etwas wie das Herz russischer Kultur. Ihr innerstes Licht.
Wer sich mit Putin beschäftigt, ist sich darüber im Klaren, dass er bei Verstand ist. Sehr wahrscheinlich faltet er im Moment öfters die Hände zum Gebet. Das mag erstaunen. Es wirft auch unweigerlich die Frage auf, wie ein religiöser Mensch sein Nachbarland mit Krieg überziehen kann. Leider schliesst sich das nicht aus. Im Gegenteil. Auch Killer der Mafia glauben an Gott und an die unbefleckte Empfängnis. Aber Putin ist kein Killer. Wenn jedoch eine Religion durch eine andere in ihren Grundfesten bedroht wird, setzt sie alles daran, sie zu vernichten. Selbst Buddhisten lassen Muslime verhungern. In der Grabeskirche zu Jerusalem schlagen sich Mönche aus unterschiedlichen Bekenntnissen Kerzenständer um die Ohren. Aber ich sehe mich ausserstande, Putin für ein Monster zu halten, das aus Willkür ein Volk mit blanker Gewalt überzieht.
Auch wenn er es tut.
Eher sehe ich ihn von hoher Erwartung buchstäblich über eine Grenze geschoben, die ihm nur eine erfolgreiche Rückkehr offenlässt.
Eine ganze Staatskirche und ihr Volk, sicher aber dessen Eliten setzen auf ihn, dass er die Verwestlichung ihres Landes abwehrt. Dazu gehört auch Demokratie, die für Russland nur bedingt in Frage kommt. Europa als angebliche Wiege moderner Demokratie hat Russland zweimal überfallen. Empört pochen wir darauf, es seien Franzosen gewesen und dann Deutsche, aber gewiss nicht Europa. Damit verlangen wir den Russen eine feinere Unterscheidung ab, die wir ihnen gegenüber verweigern. Putins Vorstösse zu einer gemeinsamen Sicherheitspolitik hat der Westen zurückgewiesen. Hand aufs Herz, wer vertraut schon der russischen Art? Unter uns kursieren stattdessen Gerüchte von dumpfer Körperlichkeit: Etwa von Russen, die in Wartebereichen die Ellenbogen ausfahren. Oder von russischen Ehefrauen, die so lange abfeiern, bis der Gatte sie verprügelt. Wir mögen russische Werte für rückständig halten und Putin als Relikt verwünschen. Dabei übersehen wir leicht, dass auch mancher indische Guru oder Rishi in keiner Weise demokratisch gesinnt ist, sondern wie Putin eine traditionelle Gesellschaftsordnung befürwortet, die das Volk zum Guten bevormundet. Bei hemdsärmeligen Russen fällt es uns auf, bei Gurus im Blumenmeer hingegen nicht. Auch soll der heimlich getaufte Sohn der russisch-orthodoxen Kirche, der im Vatikan die Ikone einer Madonna küsste, die NATO abwehren, die immer wieder Länder bombardiert. Zwar sind wir mit ihren Interventionen einverstanden. Das ändert leider nichts daran, dass andere das Bündnis als aggressiv erachten. Und sie schützen sich davor um jeden Preis.
Mit Tarkowskis Filmsprache lässt sich erfassen, was das russische Wesen, das durch Angriff verteidigt werden soll, zuinnerst ausmacht. Seine Filme lese ich in einem Stück, da gewisse Symbole in ihnen allen immer wiederkehren: Verkohlte Holzwände, vereiste Holzscheite, bemooste Treppenstufen. Aufgescheuchte Tiere, aufgescheuchte Menschen. Sie waten durch Morast, rennen hin und her ohne ersichtlichen Grund. Eine Aufnahme, die zeigt, wie die Rote Armee durch den Sywasch-See watet, der wohlgemerkt in der Ukraine liegt, soll den Regiesseur zu Tränen gerührt haben. Sehr oft treten Wasser und Feuer bei ihm gleichzeitig auf. Tarkowskis Filme erscheinen mir wie Ikonen in Bewegung: Ein Feuerspan leuchtet über einer Wasserschale, Pferde äsen Äpfel im Regen, Laub löst sich im Wind vom Morast wie Schuppen, eine Gaslampe geht aus, eine antike Fischfigur ruht unter fliessendem Wasser, Seepflanzen wiegen sich in der Strömung. Der Wind weht heran, als die junge Mutter die Rückkehr ihres Mannes von der Front erwartet. Auch die Tartaren schiessen in Wellen wie ein Sturm über die Hügel. Damit thematisiert Tarkowski ein Lebensgefühl, das Russland mit Europa gemein hat. Nämlich die Sorge, dass eine Volkshorde unerwartet aus der Ferne heranbricht und die Einheimischen überrollt.
Wie eben jetzt russische Truppen in der Ukraine.
Bei mehrmaliger Lektüre der Filme fallen schliesslich Situationen auf, in denen die Farbe Weiss vorherrscht: Tiere läppeln Milch. Ein Stilleben mit Milch und Kartoffeln, oder ein weisser Krug mit Goldrand, hindrapiert auf hellblauem Tuch. Von einer weissen Vase ist die Rede, mit blauen Blumen drauf. Eine Schranktür öffnet sich knarrend und legt ein grosses Glas mit Milch frei. Ein Kind mit weisser Taube. Ein Kind mit gläsernem Milchkrug. Kampfflieger peitschen über die Landschaft, die Menschen stieben durcheinander, hin und her, ein Glaskrug mit Milch schlägt am Boden auf. Eine Schwangere liegt in weissen Laken und Tüchern gebettet wie in einem Bad. Ein Kind sagt, es träumte unter dem Apfelbaum von einem weissen Krankenhaus. Milch fliesst aus einer Flasche am Boden. Ein weisser, netzartiger Schal liegt im Dreck. Eine weisse Gans fliegt kreischend auf, als Tartaren und Russen sich wie Ameisen im Kampf vermischen. Ein Kind mit übernatürlichen Fähigkeiten trägt einen goldenen Schal.
Zu erwägen ist, dass das Auftreten dieser Bilder auf Zufall beruhen könnte. Dann wäre diese Sammlung meiner persönlichen Aufmerksamkeit geschuldet und sagte nichts über den Regiesseuren aus. Diese Motive treten allerdings nicht beiläufig auf. Vielmehr nimmt die Kamera sie geduldig in ihren Brennpunkt und lässt Zeit verstreichen, wie so oft bei Tarkowski, auch wenn diese Motive keinerlei Einfluss auf die Handlung nehmen. Also kommt ihnen ohnedies eine tragende Bedeutung zu. Gegen Ende von «Rubilov» filmt Tarkowski Ikonen, die man während des Films nie sah. Dabei sucht die Kamera ein unscheinbares Symbol abseits der wichtigen Partien einer Ikone und bleibt darauf ruhen. Als ich das zum ersten Mal bewusst sah, kam es mir vor, als brächte dieses Motiv die gesamte Filmaussage Tarkowskis auf einen Punkt:
Es ist ein kleiner Vogel in weissen Linien auf pechschwarzem Hintergrund gemalt, als wäre er darin eingefasst wie in ein alchemistisches Gefäss. Damit er golden wird als Sinnbild eines guten, geprüften Lebens. Das Weisse steht traditionsgemäss für die innerste natürliche Reinheit einer Kultur. Es ist die Seele in ihrem Bemühen um ein gutes Leben: Die Braut vor dem Altar, das Linnen an der Sonne, das Kind mit der Milch. Dieses unendlich Zarte, von dem wir im Westen keinen Begriff mehr haben, erklärt die rohe Brutalität nach aussen. Je feiner, je zarter das innere Gut erlebt wird, das es zu bewahren gilt, desto heftiger die Gewalt, die zu seinem Schutz in Anschlag gebracht wird.
Und spätestens hier sollte klar werden, dass es bei allen Beteiligten gerade in einem Krieg um eben dieses Innerstes geht: Mutter und Kind. Die Familie. Die Gesundheit der menschlichen Seele.
Daher heisst es bei Tarkowski: «Russland, Russland. Wie viel musst du ertragen.» Das lässt sich handlich auf andere anwenden, nämlich so: Europa, Europa. Wie viel musst du ertragen?
Oder: Ukraine, Ukraine ….
Februar 27, 2022 at 9:48 pm
Hoi Pascal, da komme ich leider nicht mehr mit.