Einer beim Bier lässt sich über die Blödheit von Tauben aus, die gerade unter den Tischen der Terrasse nach Brosamen picken. Das Urteil, etwas oder jemand sei einfach nur dumm, erweist sich meistens selbst als dumm, da zu wenig Information für ein Verdikt dieser Tragweite eingeholt wurde.

Zu seinem Kollegen raunt der Mann, diese Flugratten gurrten immer genau gleich und merkten nicht, dass es immer gleich ist. Was für eine dumme Aussage, denke ich mir. Das immer gleiche Gurren dürfte seinen biologischen Zweck erfüllen, sofern es wirklich immer gleich ist und wir keine Nuancen darin überhören. Und was die Taube merkt und was nicht, erschliesst sich auch Verhaltensforschern nur in hochspezifischen Experimenten. Aber ich muss bescheiden sein, auch ich tappte mühelos in die Falle des Vorurteils von der Blödheit der Tauben: Gerne sitze ich wie viele andere bei der Brücke zu Stein am Rhein beim Kloster unter der Trauerweide und ergebe mich dösend dem Spiel der Sonne in der gekrausten Oberfläche des strömenden Flusses vor mir. Im müden Augenwinkel sehe ich eine Taube, die schon die ganze Zeit mich umwackelte, wie sie ein dünnes Stück Ast vom Steinboden aufpickt und gleich wieder fallen lässt.

Blöde Taube, denke ich.

Das Ganze wiederholt sich einige Male. Ich höre den Vogel aufflattern, dann wieder landet er an meiner Seite. Und immer pickt er kleine Äste auf, die er dann gleich wieder fallen lässt. Dank zunehmender Nüchternheit bekomme ich endlich mit, dass die Taube mit einem dritten oder vierten Ästchen in Richtung Brücke davonfliegt. Und im Nu kehrt sie zurück, diesmal ohne Ast. Da wird mir klar: Die Taube baut ein Nest im bestmöglich geschützten Gewölbe unter der Brücke.

Und die Ästchen lässt sie jeweils fallen, weil sie Mass nimmt.

Wie ein Handwerker, der aus einer Werkstatt das richtige Werkzeug heraussucht oder ein passgenaues Teilstück. Bei der Wahl des richtigen Aststücks dürften nicht nur Länge und Biegsamkeit, sondern auch sein Gewicht eine Rolle spielen. Von nun an sehe ich den Vogel mit anderen Augen.

Das gleiche Bild wie zuvor. Aber statt Dummheit sehe ich auf einmal lebendige Intelligenz am Werk.

Wie blöd ich doch bin.