Schuld gehört zu den Dingen, die man für selbsterklärend hält. Die meisten Ängste, vor allem jene, die zu Angstkomplexen auswachsen, drehen sich noch heute um Schuld und Schuldvermeidung, so meine These. Schuld und Todesangst hängen eng zusammen.
Schuld hat, wer eine Ursache verantwortet, die Schaden hervorruft. Je freier sein Spielraum dabei ist, umso höher wird die Schuld veranschlagt, auch je planvoller das Vorgehen, je grösser das Wissen um die Folgen und so fort. Wenn es um Schuld geht, reden wir von Strafe und Vergeltung. Schulden bedeuten aber auch eine Art sozialer Klebstoff, indem die Schuldner durch Wiedergutmachung an die Gläubiger gebunden sind. Verweigert ein Gläubiger jede Wiedergutmachung, bleibt diese unglückliche Beziehung zum Schuldner bestehen. Gerade in Intimbeziehungen kommt es zu dieser erstaunlichen Bockigkeit, dass man dem Schuldner jede Wiedergutmachung versagt. Vielleicht aus dem paradoxen Grund der Beziehungserhaltung statt Trennung. Denn mittels Reue und Hoffen auf Wiedergutmachung bleibt ein Schuldner so an seinen Gläubiger gebunden.
Schuld hat in doppeltem Sinn mit Todesangst zu tun: Das Opfer, das Nachteile erlitt, trägt ein Trauma davon, büsst seine Gesundheit ein, verliert sein Vermögen, seine Geliebten, seine Heimat, was auch immer. Wie alle Menschen haben besonders Opfer natürlicherweise mit ihrer persönlichen Todesangst zu tun. Das Verschulden anderer hat diese natürliche Lage zusätzlich erschwert.
Den Opfern wurde die mögliche Leichtigkeit des Seins genommen.
Aber auch Schuldige bekommen es mit Todesangst zu tun. Denn wer schuldig ist, verliert den Anschluss an andere und gerät so in tödliches Abseits. Auch hier kann es mit der Leichtigkeit des Seins vorbei sein. Auch würde es mich nicht wundern, wenn jemand nur deshalb den Verstand verliert, damit er sich von seiner Schuld freimacht. Denn wer verwirrten Sinnes ist, rechnet unmöglich andauernd seine Schulden nach.
Die Person verblödet und freut sich des Lebens.
Ausserdem gibt es Arten zu sterben, die vom Pflegpersonal unter Verschluss gehalten bleiben. Oft haben diese Fälle damit zu tun, dass im Augenblick des Sterbens die Person alle Gelegenheit zur Begleichung einer schweren Schuld als vertan anerkennen muss.
Schuld versaut dein Sterben.
Es gibt gute Gründe, die es mir erlauben, dass ich mir selbst als Schuldiger einen Freiraum sichere, in den ich mich zurückziehe und mich ganz persönlich und intim mit meiner eigenen Todesangst beschäftige, die mir vom Leben auferlegt ist. Und nicht mit den Ängsten anderer.
Denn Schuld, das scheint mir offensichtlich, ist immer auch die Last der Todesangst anderer.
Nun gibt es Menschen, die unterschiedlich strikte Schuld zuweisen. Sie tragen eine zornige Reizbarkeit aus, was Schuld angeht. Ihr Urteil auf Schuld geht ihnen leichter von der Hand, da sie von Natur aus reizbarer, empfindlicher sind. Es sind die Ängstlichen, die den Entspannten das Leben vermiesen, indem sie andauernd Schuld sprechen. Und so laden auch sie Schuld auf sich, aus Sicht der Entspannten zumindest.
Wichtig ist, keiner hat seine Lage und seine nervliche Verfasstheit in diesem Leben so gewählt, weder die Entspannten, noch die Empfindsamen unter uns.
Dennoch, oder gerade deshalb stelle ich klar, dass ich mit den Todesängsten anderer nichts zu schaffen habe. Schuld und Sühne lassen sich klar gegeneinander aufrechnen, das wird im Gerichtsverfahren ermittelt. Das schlechte Gewissen jedoch bedeutet einen zusätzlichen Strafbestand, der in dieser Rechnung missachtet bleibt. Wenn ich eine Schuld anerkenne und dafür geradestehe, darf es nicht sein, dass ein schlechtes Gewissen mein ganzes Leben belastet und so meinen Elan vermiest, an der Gesellschaft trotz meiner Schuld fürsorglich mitzuwirken. Denn wenn wir den Freiraum einer Täterin festlegen, geschieht das selten in sachlicher Klarheit, sondern wir hantieren mit Deutungen, sehen Freiheit und Fremdbestimmung heillos vermischt, sodass eine klare Schuld daran schwierig abzulesen ist. Irgendwann sind die Debatten erschöpft, das Verfahren verlangt nach einem Ende und somit nach einem Schuldspruch. Daher anerkennt Joseph Beuys seine Mitschuld am 2. Weltkrieg, sieht aber nicht ein, warum ihn deshalb Schuldgefühle plagen sollen.
Nicht mit Schuld lassen sich Menschen in vorhimmlische Höllen zwingen, sondern mit Hilfe des schlechten Gewissens. Es würde mich nicht wundern, wenn einst klar würde, dass viele Krankheiten darauf beruhen, dass Schuldgefühle den Körper energetisch hemmen. Wie Stauwehre oder falsch gesetzte Ventile bringen sie ins Stocken, was an uns und in uns so wunderbar natürlich am Fliessen wäre. Das schlechte Gewissen, das die Todesangst verschärft, bildet zwischen uns Menschen wie ein feinmaschiges, von Russ und Pech verklebtes Netz. Es hat auch etwas Bequemes an sich, wenn einen die zufällige Norm ermächtigt, andere mit Schuld zu belasten, gerade wenn diese einwandfrei erwiesen ist. Das Opfer hat genauso wie der Täter einen festen Platz in der Gesellschaft gewonnen, der ihm manche persönliche Zweifel über sich und andere erübrigt. Vielleicht sollte man dankbar sein.
Als wäre Opfern ein Gutenmenschentum verliehen worden, das für alle Tage gilt. Dabei sollten sie sich glücklich schätzen, dass sie das Leben zufälligerweise noch nicht in Zerreissproben geführt hat, aus der kaum jemand schuldfrei herauskommt. Man weiss ja: Wer ohne Sünde ist, … Zwar gestehe ich Schuld ein, verwahre mich aber davor, dass andere mir ihre Todesangst als schlechtes Gewissen aufbürden.
Mit Fug und Recht weise ich diese Zumutung ganz sicher dann zurück, wenn ich mich erhole.
Und später irgendwann, wenn ich sterbe.
Kommentar verfassen