Wie üblich bei weltbekannten Persönlichkeiten wurden auch Joesph Beuys die immer gleichen Fragen gestellt. Unter anderem erkundigte man sich danach, wie er mit seiner Mitschuld am Zweiten Weltkriegs als Kampfflieger der Wehrmacht umgehe. Der Künstler bestritt seine Mitschuld nie. Aber ihn plagten deswegen keine Schuldgefühle. Er könne sie sich nicht leisten, weil sie ihn daran hinderten, die «Sache in eine ganz andere Richtung zu bringen». Damit meinte er, dass er zur Verbesserung dieser Gesellschaft beiträgt, aus der solche Katastrophen hervorgehen, die Verbesserung sogar zuwege bringt, indem er am erweiterten Kunstbegriff wirkte, der alle zu Künstlern macht. Schuldgefühle würden ihn bloss lähmen. Beuys sah sich in dieser Sache sogar als «Mann am Hebel».
Anders betrachtet lässt sich genauso sagen, Beuys könne es sich leisten, keine Schuldgefühle zu haben.
Immerhin ist es eine reizvolle Aussicht, wenn die Gesellschaft über Kunst verändert werden soll. Dennoch gibt zu denken, was Beuys hier sagt. Tätern wünscht man immerhin Schuldgefühle an den Hals. Ein Mörder, der vor Gericht zugibt, er könne sich keine Schuldgefühle leisten, würde auf heftige Ablehnung stossen. Im Falle eines Schwurgerichts könnte seine Haltung sogar das Strafmass hochtreiben.
Ein Soldat aber ist kein Mörder, denn er zieht keinerlei persönlichen Nutzen aus seiner Untat. Auch ein Kampfflieger handelt auf Befehl. Sein Vorgehen ist technisch festgelegt. In diesem Fall muss der Befehl von Schuld entlasten. Aber Beuys anerkennt die Schuld.
Meines Wissens geriet der Künstler wegen fehlender Schuldgefühle auch nie in die Kritik. Wenn wir sein Beispiel jedoch auf den Alltag übertragen, kommen mir zuhauf Fälle in den Sinn, wo man sich darüber entsetzte, dass jemand Schuldgefühle bestritt, obschon er einer mehr oder weniger brisanten Täterschaft überführt war. Ein gefühlskalter Mensch also. Wie kann man das verstehen? Nun, Beuys gibt die Antwort:
Eben, weil Schuldgefühle lähmen. Und weil alle Menschen die Person am Hebel sind.
Weniger zu Steuerung und Gestaltung einer Gesellschaft, als vielmehr des eigenen Lebens. Das wird allen abverlangt, die an einem modernen Gemeinwesen teilhaben.
Wir sind alle am Hebel unseres Lebens. Dadurch verschärft sich unsere Verantwortlichkeit gegenüber anderen. Schuld droht dann noch mehr als früher. Somit sehen wir uns zusätzlich veranlasst, Schuldgefühle abzuweisen, so gut es geht. Sie hindern uns daran, dass wir diesem Ruf der Moderne nachkommen, den sie ausnahmslos an alle richtet.
Ein moderner Mensch anerkennt seine Schuld, weist aber Schuldgefühle zurück. Er tut dies zugunsten seiner Selbstbestimmung.
Kommentar verfassen