Das Geschlecht ist uns angeboren. Das scheint sonnenklar. Ist es aber nicht. Seit Langem herrscht eine andere Meinung vor. Demnach wird uns das Geschlecht anerzogen. Kann es nicht beides sein? Einmal rutschte mir die Bemerkung heraus, Frauen seien stärker ins menschliche Leben inkarniert als Männer. Man fand diese Aussage schon etwas irritierend. Ich versuche mich zu erklären:
Mir scheint, ich bin in einer Art weichgespülter 68er-Jahre aufgewachsen: Die Mädchen liessen ihre Achselhaare spriessen, sie ritten auf leichten Motorrädern durch das Dorf, lungerten am Bahnhof herum, drehten ihre Zigaretten selbst. Mir gefiel, dass ich ebenfalls von der traditionellen Männerrolle entlastet war. Erst Jahre später würde ich dazu nachsitzen müssen, als die Töchter emanzipierter Mütter wieder mit der Tradition liebäugelten. Jedenfalls glotzten die Mädchen damals mürrisch, wenn man ihnen die Tür aufhielt. Meine erste Freundin war eine Kroatin, die mich gehörig aus dem Busch klopfte. Also nichts vom beherzten männlichen ersten Schritt.
Im Verlaufe der Jahre legte mir das Leben nahe, dass mit der ersten Überzeugung vom Geschlecht als körperlicher Eigenschaft doch etwas dran sein könnte. Zum Beispiel haben wir Männer keine Tage. Uns fehlt die Fitness eines monatlichen Trainings, den Alltag für gewisse Zeit unter erschwerten Bedingungen zu meistern. Eisenmangel und Migräne lassen sich unmöglich als anerzogenes Verhalten begreifen. Allerdings gibt es Stimmen, die sogar in diese Richtung gehen. Als Mann ohne launisches Körperinnenleben bin ich jedenfalls immer wieder auf Anregungen angewiesen, die das Leben von aussen an mich heranträgt. Und seien es auch nur Filmszenen, die für künstlich gelten, obgleich die Gefühle, die sie auslösen, sehr wohl echt sind. So zum Beispiel eine Szene eingangs von Almodovars «Carne tremula». Sie dauert wenige Augenblicke. Dennoch befiel mich die Gewissheit, ich hätte das so genannt weibliche Geschlecht erst wirklich verstanden. Das Ereignis spielt in Madrid während der Franco Diktatur. Während einer Busfahrt kommt eine Prostituierte nieder. Die Frau wird von ihrer Zuhälterin betreut, ansonst befinden sich keine Passanten in dem Bus, während der Fahrer verzweifelt das Depot zu erreichen sucht, damit er nach Hause kommt. Denn es herrscht Ausgangssperre, jederzeit könnte geschossen werden. Die Umstände sind einer Geburt alles andere als zuträglich. Gepeinigt vor Angst blickt sich die werdende Mutter immer wieder nach Gefahren um.
Der erschütterndste Moment, dieser Augenblick reinster Erkenntnis, ist der, als die Wehen derart stark heranwellen, dass die Frau sich von ihrer Umwelt abwendet, damit sie sich ganz und gar diesem Vorgang hingibt. Bei vollster Achtsamkeit auf ihr Gebären. Wie es die Natur ihr abverlangt. Sie seufzt, sie stöhnt, sie schreit. Je nach Gefahrenlage wäre sie nun verraten. Aber es geht nicht anders. Sie durchlebt Momente völligster Entfremdung, wenn sie sich ihrer totaler Infragestellung preisgibt, indem sie sich angesichts dieser Düsternis derart öffnet und verausgabt.
Der erschütterndste Moment, dieser Augenblick reinster Erkenntnis, ist der, als die Wehen derart stark heranwellen, dass die Frau sich von ihrer Umwelt abwendet, damit sie sich ganz und gar diesem Vorgang hingibt. Bei vollster Achtsamkeit auf ihr Gebären. Wie es die Natur ihr abverlangt. Sie seufzt, sie stöhnt, sie schreit. Je nach Gefahrenlage wäre sie nun verraten. Aber es geht nicht anders. Sie durchlebt Momente völligster Entfremdung, wenn sie sich ihrer totaler Infragestellung preisgibt, indem sie sich verausgabt.
Ihr Körper öffnet sich ganz, er stülpt ihr Innerstes buchstäblich nach aussen. Diese Vorstellung entgrenzt meinen Verstand: Der eigene Körper, der sich derart einer Gefahr öffnet.
Diese unwirtliche Umwelt lässt sich dramatisieren, obgleich das nur bedingt nötig wäre, wie Gebären auf der Flucht, unter Beschuss, im Hochwasser. Aber selbst in befriedeten Umständen besteht diese Wehrlosigkeit für eine Mutter grundsätzlich über Jahre, nämlich während Schwangerschaft und Kindsbetreuung. Zumindest früher, als den Frauen Eigenständigkeit verwehrt blieb.
Vielleicht liegt der Grund, warum Frauen der Tendenz nach genauer auf Einzelheiten achten und Verhaltensweisen hinsichtlich Familienplanung eingehender prüfen, sie als die feineren Realitätsfilter, wie Antonioni meint [?], dieser Grund besteht eben darin, dass sie auf diese Schutzlosigkeit hin von langer Hand Vorsorge treffen. Und wenn sie das tun, tun sie es nicht als Frauen.
Sondern als Menschen.
Diese Vorsorge betrifft uns Männer kaum derart existenziell. Immer heisst es, Frauen seien so und so, Männer anders oder umgekehrt. Dabei müsste es heissen:
Frauen sind Menschen unter bestimmten Bedingungen. Und umgekehrt.
Wie wir alle mit den Dingen rechnen, die in unseren Möglichkeiten liegen, ob sie nun gewiss sind, sehr wahrscheinlich oder irgendwann mit Sicherheit geboten. Möglichkeiten, die teils mitgeboren sind.
Wie etwa unsere Sterblichkeit. Oder unser Geschlecht. Vielleicht hat die Angst, jemals zu gebären, die gleiche Qualität wie die Gewissheit, jemals sterben zu müssen.
Frauen sind Menschen. Damit hätten wir also zu einer Binsenwahrheit gefunden. Warum auch nicht? Binsenwahrheiten entstehen, wenn wir uns aus zu geringem Abstand auf die Welt beziehen. Wenn wir an der Gegenwart die Nase plattdrücken. Wie jeden Tag. Wenn wir etwas für selbsterklärend halten.
Was es nicht ist.
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