Im Tessin sterben die Dörfer zum zweiten Mal. Zwar konnten die Rusticobesitzer aus der Nordschweiz oder sonst woher das erste Dorfsterben etwas wegschminken. Nun im Alter angekommen finden sie keine Abnehmer für ihren Besitz.Auch wirtschaftlich besteht für die Nachfahren in der Familie wenig Anreiz. Nicht jedes Rustico ist so gelegen, dass es für Bett und Frühstück einträglich wäre. Die neuen Besitzer suchten Abgeschiedenheit um jeden Preis, wenn auch mit Anschluss an Kanalisation und Telefonie. Nach einem schwierigen Leben in einer Hochleistungsversorgungsgesellschaft beanspruchten sie ihr Recht auf Entspannung und Selbstwonne für die restlichen Jahre.
Eigentlich ein Hohn, wenn man in die Geschichte dieser Gegend zurückblickt. Eine gutbetuchte Gesellschaft lässt es sich in einer Landschaft gutgehen, in der sie ein Jahrhundert früher aus Armut immer wieder vor die Hunde gingen, wo das Wasser auf Granit ganze Ernten wegschwemmte und Waldbrände Dörfer verheerten, wo sie ihre Kinder verdingten und zeitlebens ein gebrochenes Herz verborgen hielten. Ein Leben ohne Schmerzmittel, der Witterung und dem Klima bis auf den Tod ausgesetzt.
Und die Täler entvölkerten sich gen Übersee.
Fast alle Arbeiter, die in den Stollen des Jungfraujoch ihr Leben liessen, tragen einen italienischen Namen.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Nachfahren dieser Menschen, die man auf brüchigen Schwarzweiss-Bildern halbwegs erkennt, wie sie brav starrend die Belichtung abwarten, schon längst daran gewöhnt, dass vermögende Nordschweizer hier eine Einfachheit geniessen, die sie selbst nie erlitten haben.
Nun ins Alter gekommen nagen sie an der bitteren Tatsache, dass ihre Nachkommen an der Übernahme des Rustico kein Interesse zeigen. Das bisschen gekränkte Nostalgie lässt sich schon verschmerzen. Für Erholung und Selbstfindung, sofern diese überhaupt nötig ist, braucht die junge Generation keine Abgeschiedenheit und auch kein schlichtes Leben wie ihre Eltern oder Tanten und Onkels. Internet und Kopfhörer bilden einen Kokon, der ihnen eine ganze Natur ersetzt. Auf gewisse Zeit zumindest.
Daher steht für sie ausser Frage, dass sie sich mit Pflege und Verwaltung eines Rustico belasten, das einfach nicht verfallen darf. Das wäre etwas zu viel an blosser Hardware.
Generationen gehen eigene Wege. An dieser Tatsache kauen die meisten, wenn sie altern.
Sie schlucken sie einfach nicht. Ich frage mich, warum.
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