Es war eine Nachtfahrt ins Zürcher Riff-Raff zum neusten Streifen von Lars von Trier.
Nächtliche Gestalten vor dem Kinobesuch, nächtliche danach. Dazwischen, beim Italiener, las ich einen Artikel über Menschenopfer, über heiliges Töten. Einer dieser seltsamen Zufälle, wo man den Eindruck hat, als kündigte sich etwas an, denn der Film bietet einen intimen Zugang zu einem Serienmörder. Wir begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Es gibt keine Szene ohne ihn. Die Tötungen dauern an. Da fragt man sich, warum man sich das antut.
Der grässlichste Moment für mich ist der Augenblick, da die Person, die geopfert wird, sich bewusst wird, was auf sie zukommt. Dieser Moment wiederholt sich mehrfach in schrecklicher Steigerung, wenn das Opfer, im Kampf zunehmend erschöpft, da es alle Kräfte aufbietet. Auch sein Aufbäumen wiederholt sich, bis es unterliegt und sein Sterben geschehen lässt, ohne dass es darin eingewilligt hätte.
Es sind regelrechte Kreuzigungen. Das Opfer wird so in Position gebracht und zurechtgerückt, dass sein Widerstand gebrochen wird und die Tötung zielsicher gelingt. Auch die psychische Marter, die Figuren von Triers erleiden, folgt dem gleichen Muster. Die Personen erkennen, was auf sie zukommt. Sie errechnen die Folgen in brutalster Klarheit.
Man könnte diese Erbarmlosigkeit als zweifelhaftes Vergnügen abtun. Damit haben wir aber nur die halbe Miete, soweit es Lars von Trier betrifft. Dieses Muster nämlich, dass man von Situationen des Lebens gekreuzigt wird, trifft genauso auf die Täter zu. Die Nymphomanin Joe weiss genau, welche Probleme in dieser Gesellschaft auf sie zukommen, auch wenn sie nie darin eingewilligt hat, Sex lustvoller zu empfinden als vielleicht für Frauen üblich. Auch der Serienmörder kommt nur zu Gefühlen, wenn er quält und tötet. Seine Sehnsucht nach Erlösung, die darin besteht, dass er aufgegriffen wird, bleibt unerfüllt. Einmal gerät er in Verzweiflung, als ein Polizist seine Andeutungen missachtet und ihn der Situation einer nächsten Tötung überlässt, als wäre er selbst das Opfer.
Wenn man diesen Blick auf Opfer und Täter richtet, verschwimmt auf einmal der sonst so klare Unterschied zwischen ihnen: Eine junge Mutter sieht, währenddem sie Sex hat, wie ihr Bub auf ein Fensterbrett steigt und in die Tiefe stürzt. Ihre unerklärliche Teilnahmslosigkeit stellt sie vor die Tatsache, dass sie aus dieser Gesellschaft und ihren Werten ganz ausscheiden wird. Die Figur Grace gerät in Dogville in eine Abhängigkeit, bei der der Missbrauch klar absehbar ist. Die Mafia wird die Täter für sie so zurichten, dass sie zielsicher an ihnen Rache nimmt. Eine weitere Figur namens Justine errechnet unzweifelhaft, in welches Abseits ihre Depression sie steuern wird.
Und was für Opfer wie Täter gleichermassen gilt: Sie sind jeder Illusion beraubt.
Warum also soll man sich das antun? Von Trier führt uns in Situationen, bei denen der Vorwurf leicht fällt, er habe bei allem Realismus, der kaum auszuhalten ist, uns keine Lösung anzubieten.
Die Antwort ist für mich klargeworden: Es gibt eine Unzahl von Menschen, die solche Kreuzigungen erleiden, ob nun als Täter oder Opfer. Filme von Lars von Trier zu sehen, bedeutet demnach, dass ich diese Tatsache würdige, indem ich das bisschen Kreuzigung im Kinogestühl auf mich nehme und durchstehe.
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