In einer Jahreszeitung von Absolventen der Berufsmatura wird mein Fachgebiet nicht etwa mit Geschichte oder Deutsch, sondern mit «Deep Shit» angegeben. Das habe ich sofort und richtigerweise als Auszeichnung begriffen. Mit «Deep Shit” wird gemeint, dass es in Sachen Lebensfragen ans Eingemachte geht. Anlass genug, diesen Ausdruck einmal wörtlich zu nehmen. Deep Shit: Tiefe Scheisse also.

Meine Erfahrung ist die, dass man eigentlich ausnahmslos versöhnt zurückkehrt, wenn man sich in verborgene Tiefenschichten des Lebens begibt. Dazu ein Beispiel: Früher gab es Frauen, die sich intim ritzten, damit der nimmersatte Gatte in der Annahme von ihr lassen würde, sie hätte ihre Tage. Gewiss war er ausserstande, sich ihren Zyklus zu merken. Diese Schicht in der Bedeutung menschlichen Verhaltens ist schon tief genug. Aber es geht noch tiefer. Denn nach wiederholtem Ritzen erlebt die Frau eine Abfuhr von innerem Druck, was sie dazu bringt, dass sie sich auch sonst zu ritzen anfängt. Salopp gesprochen kommt sie auf den Genuss dieser Sache. Aus einem natürlichen Bedürfnis heraus, wie es sich wohl von selbst versteht.

Wir sind über manches aufgeklärt. Aber es bestehen weiterhin so genannte Abgründe menschlichen Verhaltens, die eben als «Deep Shit» auch heute noch verborgen bleiben. Eingemachtes wird in Kellern gehortet. Genau wie Unrat in Körpern. Es gibt doch tatsächlich Gemeinschaften weltweit, die körperliche Ausscheidungen in ihre Sexualität einbeziehen. Für manche dürfte es unerklärlich sein, wie man diesen tiefen Ekel aushebelt, der uns doch über das Tierreich hinaus kultiviert. Wem es dabei flau wird, dem sei vorweg eröffnet, dass der Ekel vor Unrat bei diesen Praktiken offenbar erhalten bleiben muss. Andernfalls käme es gar nicht zum tatsächlichen Anreiz, der eben darin besteht, dass ein tiefsitzendes Tabu überschritten wird.

Denn erst im Überschreiten, sagt man, werde das Tabu wirklich greifbar. Ein faszinierendes Paradox: Das Tabu bleibt intakt, obwohl es gebrochen wird. Genauer: Weil es gebrochen wird. Sonst hat es den dürftigen Seinsstatus einer Verbotstafel. Deshalb gilt in dieser delikaten Sache: Ohne Tabu kein Genuss.

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan meinte [p 72], wir Menschen seien die einzige Lebensform, die mit ihren Ausscheidungen Probleme habe. Etwas mehr Würdigung für unseren Stoffwechsel wäre durchaus angezeigt, statt seine bedenkliche Kehrseite gleich wegzuspülen. Schliesslich ermöglicht er uns mehr Freiheit als manch anderer Lebensform.

Die Frage nach diesem Problem lohnt sich allemal. Vielleicht zeigt sich unsere Verwandtschaft zum Tier darin allzu deutlich. Die schonungslose Echtheit von Unrat dürfte uns deshalb zusetzen. Eine Kollegin verriet mir einmal den Grund, warum Frauen öfter zu zweit die Toilette aufsuchen. Man darf raten, aber man wird unmöglich darauf kommen: Die eine steht Wache, damit die andere ihr geräuschvolles Geschäft frei verrichten kann. Da haben wir die Schwierigkeit: Der Gestank einerseits, versteht sich, aber andererseits die Akustik, die niemand unter Kontrolle hat und die uns genauso tierisch vorkommt wie der Geruch.

Soviel zum Tabu selbst. Genaueres nun zu seinem Bruch: John Gregory Bourke, ein Adjudant der amerikanischen Armee, wurde 1881 bei den Zuni-Indianer Zeuge eines Harntanzes als Eröffnung zu weit Abstossenderem, über das der Adjudant die Leserschaft schonungshalber in Unkenntnis belässt. Der Grund dieses Brauchs lag darin, dass die Zunis lernten, Ekel zu überwinden und alles Mögliche zu essen, falls sie bei der Jagd von Bisons zu weit abgetrieben würden, sodass sie auf ihrer Rückkehr nicht verhungerten. Bourke untersuchte daraufhin die Aufgabe von Unrat in Sitten und Gebräuchen von Völkern weltweit. Südamerika, Europa, Asien. Sein Befund ist schlicht erhellend. Auf den Punkt gebracht wurde Unrat, sei er menschlichen oder tierischen Ursprungs, nicht nur als Dünger, sondern auch als Heilmittel eingesetzt.

Das bedeutet praktisch, dass man Unrat als Fango-Packung aufgetragen oder den Speisen in geringer Dosis beigemischt hat. Für Mütter ohnehin keine Schwierigkeit, da sie über die schlichte Möglichkeit verfügten, sicher zu ermitteln, ob ihr Kind krank war, indem sie von seinem Stuhl kosteten. Damit schliesst sich der Kreis zu den Praktiken der eingangs erwähnten Community. Auch Bourke hat betont, dass für die Völker damals Sex, also Fortpflanzung und Ausscheidung eine Einheit bildeten, was nur schon anatomisch nicht abwegig erscheint. Der Spruch des Kirchenvaters Augustinus dürfte geläufig sein, nämlich dass wir zwischen Scheisse und Pisse zur Welt kommen. ‘Inter faeces et urinam nascimur’ oder ähnlich.

Wir hüllen uns in Natur. So werden wir gesund. Schwimmen, Höhenluft tanken. In einem mongolischen Spielfilm graben sie eine Person, die einen schweren Stromstoss erlitten hat, der Länge nach bis zum Hals in Erde ein.

Im Appenzellischen werden neuerdings wie früher Molkenbäder angeboten. Es soll also völlig normal sein, dass man in tierischer Muttermilch badet, während die genannten Praktiken mit Unrat für verwerflich gelten?

Dabei sind sie nur eine Nuance vom Gleichen.

Nämlich dass wir die Nähe zu echter Natur brauchen und sie uns nehmen, wo sie eben greifbar ist. Tief in Natur gehüllt sein, um zu gesunden. Eben: Deep Shit.