Das Missverständnis ist schlicht grandios: Alles, was mit Yoga, Chakras, Kundalini oder Ayurveda zu tun hat, gilt für spirituell. Dabei ist es eigentlich Materialismus vom Feinsten.

Die Haltung, es gebe nur Materie, braucht uns nicht mehr zu erschrecken, seitdem modernste Physik die Angelegenheit des Stofflichen als unerklärlich vermittelt. Materie entzieht sich unserem Verstand, wenn man sie auf Quantenstufe zu erfassen sucht. Nach Aussagen von Forschern liegt das nicht an den Messgeräten. Die Materie verhalte sich so, sagen sie. Quantenphysiker nehmen Anleihen bei fernöstlichen Weltanschauungen, damit sie zu einem Verstehen kommen. Ein gewisser Triumph macht sich breit, besonders bei Leuten, die mit fernöstlicher Spiritualität die materialistische Kultur des Westens bekämpfen. Meiner Ansicht nach sind sie für dieses Missverständnis in beträchtlichem Masse verantwortlich. Ihr Engagement hat dafür gesorgt, dass fernöstliches Gedankengut zumeist als esoterisch abgetan wird. Diese Neuorientierung der Quantenphysik empfiehlt sich ihnen genauso als Beleg für die Spiritualität des Materiellen, wie es umgekehrt anzeigt, dass man fernöstliche Konzepte gleichfalls materialistisch lesen sollte. Zum Ausgleich folge ich hier der zweiten Lesart, auch wenn ich der Meinung bin, dass beide Bereiche notwendig zusammengehören.

Was ich mit feinstem Materialismus meine, lässt sich an diesen Beispielen nachvollziehen: Wer indische Gewürze, etwa Garamasala, Kreuzkümmel und Asafoetida für sein Essen in gesottener Butter brät, erfährt an sich selbst, wie sie auf seine Verdauung einwirken. Eine Mantra-Meditation führt zu einer feinen, aber körperlichen Erfahrung. Ich weiss nicht, was daran spirituell, sprich esoterisch sein soll. Allenfalls ist der Einfluss so zu nennen, den solche Erfahrungen auf uns haben können.

Diese körperliche Feinheit zu erfahren, führt von allein zu mehr Achtsamkeit im Leben.

Meine Auffassung von Spiritualität ist eine andere. Zum Beispiel erscheint mir die so genannte Realphantasie im wörtlichen Sinne spirituell. Diese Methode eignet sich im alltäglichen Umgang, indem sie Konflikten zuvorkommt, ohne sie allerdings aus der Welt zu schaffen. Wenn zum Beispiel Schüler misslaunig vor sich hin brüten oder sich anstössig benehmen, wird das gerade von Schweizer Lehrkräften gerne persönlich genommen. Oder ein Mitarbeiter kommt zu spät zur Sitzung. Bei Nachfrage reagiert er abweisend, hantiert an seinem Handy herum. Oder ein Vorgesetzter verlangt ein Gespräch unter vier Augen, bemängelt kleinste Vergehen in einer ungewohnt rüden und pingeligen Art. In solchen Fällen legt dir die Realphantasie nahe, dass du als Betroffener Gründe ersinnt, die das irritierende Verhalten erklären, ohne dass sie etwas mit dir persönlich zu tun haben. Zum Beispiel Ärger zu Hause, finanzielle Probleme, schwierige Familienverhältnisse und Ähnliches. Beziehungsabbruch, Überlastung, Ferien gestrichen, Pläne gescheitert. Es spielt keine Rolle, ob diese Annahmen zutreffen. Ihre Funktion hat mit Wahrheit nichts zu tun.

Eine andere, meines Erachtens spirituelle Herausforderung liegt darin, dass man den eigenen Neurotypus, der für normal gilt, im Vergleich zu Feinfühligen und zu Aspergern als eine Form grobfühliger Behinderung vor geistigem Auge umdeutet, statt dass man es sich auf der gängigen Unterscheidung zwischen behindert oder nicht-behindert bequem macht. Denn für diese Umwertung gäbe es Anlass genug. Grobfühligkeit mag der Norm entsprechen, ihr entgehen sehr oft Nuancen und Zwischentöne. Der künstlerische Feinsinn ist gering entwickelt, der Geschmack eben grob und bäuerisch.

Im Grunde ist alles in gewissem Sinne spirituell, was mit Umdeuten zu tun hat.

Letztlich, was die Moderne uns abverlangt, nämlich dass wir einsehen, was für alle notwendig und förderlich ist. Also rein gedankliche Leistungen.