Moralische Skrupel sind keineswegs überwunden. Vielleicht sind sie weniger grundsätzlich geworden. Der Bereich ihrer Anwendung jedenfalls hat sich verlagert. So kommt neuerdings die Frage auf, ob es verwerflicher sei, wenn man Pornografie geniesst oder zu Prostituierten geht. Wie wäre das zu klären?

Früher hätte man beide Vorhaben grundsätzlich abgelehnt. Öffentlich zumindest. Das könnte nach wie vor der Fall sein, indem beide Verhaltensweisen für schlecht gelten, das eine jedoch für schlechter als das andere. Ein Unterschied nach Graden ist mühsam zu fassen, wenn man ihn erklären soll. Was macht das Eine besser als das Andere, wenn nicht das, was wir für gutes Verhalten erachten. Und das ist immer ein Verhalten, bei dem Rücksicht auf Andere genommen wird, letztlich auf das gesamte Gemeinwesen, dem man angehört. Spätestens da kommt einem der Verzicht auf persönlichen Vorteil jedoch wieder zugute.

Das wäre die eine Vorarbeit zur Klärung. Die andere betrifft zwei Grenzwerte, die hier eine Rolle spielen: Das beste Verhalten in der Sache sexueller Triebabfuhr, so die Tradition, wäre Treue auf Lebenszeit, die schlechteste eine Vergewaltigung zum blossen Lustgewinn. Irgendwo dazwischen sind die Fälle von Porno und Puff angesiedelt. Für beide gilt, dass Geld damit verdient wird. Auch Amateure verdienen ihre Coins, wenn sie sich vor der Kamera gehen lassen. Ein Handel also, wie er sonst niemandem Kopfzerbrechen bereitet.

Gegner der Prostitution beklagen die mögliche Zwangslage. Das wäre allerdings ein Problem des Zwanges, nicht der käuflichen Liebe selbst. Schliesslich verbieten wir die Arbeit nicht, nur weil es Zwangsarbeit gibt. Freiwillige Sexarbeit gibt es für die Gegner nicht. Sie müssen also zahlreiche Selbstzeugnisse Lügen strafen, die eben genau das von sich sagen. Gegen freiwillige Prostitution, die es gleichwohl gibt, wäre anders zu argumentieren. Zwang ist ohnehin eine graduelle Sache. Die Ansicht, jemand tue etwas entweder freiwillig oder völlig fremdbestimmt, greift an der Wirklichkeit vorbei. Wir sind zu Steuerleistung verpflichtet. Bestenfalls entscheiden wir uns für die Art der Erwerbstätigkeit, je nach Möglichkeiten, die wir haben. Soviel zur so genannten Freiheit: Wir wählen die Mittel, aber nicht die Zwecke, für die wir sie einsetzen. Und an Zwecken, nicht an Mitteln hängt unsere Bedürftigkeit.

Hierzulande heisst arbeiten ‘schaffen’. Warum nicht gleich ‘anschaffen’ für alle Berufe verwenden?

Manche vertragen die Demütigung nicht, die zumeist Frauen erdulden, wenn sie Pornos drehen oder sich anbieten. Aber man hört von Betroffenen, die sich im Gastgewerbe weit öfter erniedrigt fühlen. Sie werden von älteren Herren mit fettem Geldbeutel angegeifert, weil sie an den Barbereich gebunden sind. Wenn sie huren, bestimmen sie Tarif sowie Umstände und Ablauf der Begegnung. Im Übrigen gibt es neuerdings Pornos, die von Frauen für Frauen gedreht sind. Es scheint tatsächlich angebracht, dass man die Moral in dieser Sache neu überdenkt.

In Sachen Rücksichtnahme dürfte der Bordellbesuch auf beiden Seiten weit mehr abverlangen, bei Freier wie bei Huren. So gesehen wäre der Pornokonsum als verwerflicher zu beurteilen, da dort überhaupt keine Rücksichtnahme ansteht. Man sucht sich die Filmchen aus, die dem eigenen Gusto entsprechen, und spult sie ab, bis die Nüsse leer sind.

Man darf den Tauschhandel Sex gegen Geld nicht geringschätzen. Geben und Nehmen erfolgen wechselseitig. Der Eigennutz ist demnach so organisiert, dass er zu beiderseitigem Vorteil gereicht wie beim Handel überhaupt. Das Gemeinwesen nimmt daran keinen Schaden, also ist dieser Tauschhandel zumindest moralisch als neutral zu gewichten.

Die Ehe gibt sich darüber erhaben. Man würde ihren heiligen Bund gewiss nicht auf dieser niederträchtigen Stufe menschlichen Auskommens angesiedelt sehen. Tatsächlich ist auch sie nur ein Kuhhandel. Steckt eine Beziehung in der Krise, heisst es oft, Geben und Nehmen stimmten schon lange nicht mehr. Was wäre das denn anderes als pure Wirtschaft?  Der eheliche Handel greift aber noch tiefer: Es geht nämlich um Schutz und Unterhalt gegen Sex.

Eine Bekannte von mir, die vor Jahren beim Pfarrer Hilfe vor den brünstigen Übergriffen ihres Gatten suchte, wurde ermahnt, diesem ausgleichenden Dienst schuldigst nachzukommen. Die eigene Frau zu vergewaltigen galt bis tief ins 20. Jahrhundert als Kavaliersdelikt. Diesen Ausdruck darf man sich auf der Zunge zergehen lassen. Familiärer Missbrauch erklärt sich unter anderem von daher, dass der Herr Vater, wie er früher genannt wurde, auf Pflegetochter ausweicht oder nötigenfalls auf das eigene Blut, wenn die Gattin im Bett nicht Schritt hält. Und daran wird dann nur sie schuld sein.

Jedes Volk weiss seit je, dass Fortpflanzung allein für die Abfuhr sexuellen Hungers nicht ausreicht. Im Netz finden sich Belege zuhauf für diesen erstaunlichen Appetit, weltweit und querbeet durch Kulturen und Geschlechter. Keine Ethnie, auch kein indigenes Volk lässt das Sexuelle unreguliert.

So betrachtet sehe ich keine Möglichkeit, die Frage nach mehr oder weniger Güte oder Verwerflichkeit von Ehe, Puff oder Porn zu entscheiden. Rücksichtnahme und Eigennutz sind überall derart verschränkt, dass die gewünschte Klarheit ausbleibt. Und solange in allen Bereichen Gewalt und Nötigung vorkommen, weiss ich nicht, wie man das Eine hochloben, das Andere aber mit Abscheu belegen kann.

Alle drei sind sie Regulierungen von Sex. Daher sollten wir sie gleichermassen schätzen. Ohne geregelte Abfuhr würde ein menschliches Gemeinweisen immer wieder hochkochen und irgendwann zerrütten.