Ein Jugendlicher wollte wissen, ob ich es zulässig fände, wenn man sich jemandem in den Weg stellt, der eine Person aus blosser Neugier töten wolle. Die scheinbare Abartigkeit nur schon dieser Überlegung verbirgt ein ernst zu nehmendes Anliegen. Für den Jugendlichen ging es nur zweitrangig um die drastische Grenzüberschreitung. Vielmehr sah er unser Bedürfnis, dass wir tun und lassen können, was wir wollen, durch dieses extreme Beispiel in Frage gestellt. Das ist klug gedacht, denn die Dinge klären sich zumeist, wenn man sie übertreibt. Das nennt sich subversives Vorgehen.

Ich erzählte ihm einen ähnlichen Fall, der aus dem konkreten Leben gegriffen ist: Ein Kollege wollte bekifft Auto fahren, damit er den Kick geniesst. Wir stellten uns ihm entgegen, nicht um seinetwillen, sondern deshalb, weil er dadurch andere gefährdet. Sollte er auch diese zweifelhafte Kür beherrschen, wird er nie voraussehen, ob ihm ein Kind vors Auto rennt.

Bei dem, was wir nach unserem Gutdünken tun und unterlassen, dürfen wir andere nicht gefährden. Das verstände sich von selbst, wenn es da nicht Jugendliche gäbe, die sogar nach Gründen für diese Selbstverständlichkeit suchen. Warum soll das so sein? Gesetz und Moral stimmen darin überein, dass geboten ist, was allen nützt. Sinngemäss, dass untersagt ist, was allen schadet. Jemanden zu töten, schadet zwar nicht allen. Aber wenn die Leitidee dieser Handlung unter uns Schule machte, nämlich dass wir unbeschränkt tun und lassen sollten, was wir wollen, würde der Schaden das ganze Gemeinwesen erfassen.

Überlege dir, alle würden so vorgehen. Das bekommt man zu hören, wenn Eltern lästige Fragen der Kinder nach dem Grund ihrer Erziehungsmassnahmen abwehren, wie zum Beispiel ihr Zimmer in Ordnung zu halten. Was den Kindern dann als Ausflucht erscheint, nennt sich bei Kant Kategorischer Imperativ: Handle so, dass die Leitidee deiner Handlung, Maxime genannt, als Vorschrift für alle dienen könnte, sodass die Gesellschaft dadurch erhalten und stetig verbessert wird.

Was die Gesellschaft will, fällt einem Jugendlichen gerne lästig. Das liegt daran, dass er noch um Klarheit ringt, welche Rolle er in ihr spielen soll, ohne dass er in dieser Sache Hilfe von ihr bekäme. Das ändert nichts an der Einsicht, um die er nicht herumkommt:

Wir können nur tun und lassen, was wir wollen, weil es andere Menschen gibt, die in einer Gesellschaft zusammenleben. Kurzformel:

Ohne Gesellschaft keine Freiheit.

Freiheit jedenfalls in diesem eher unbedarften Sinne. Das versteht sich leicht: Gäbe es keine anderen Menschen, wären wir alleine mit der Deckung unserer Grundbedürfnisse beschäftigt. Wir suchten nach Nahrung und kümmerten uns pausenlos um unsere Sicherheit. Niemals könnten wir tun und lassen, was wir wollten.

Auch wäre einzusehen, dass die Möglichkeiten, die ich nutzen will, wie zum Beispiel bekifft Auto zu fahren, von anderen Menschen zu unser aller Verfügung bereitgestellt wurden. Das gilt für die Technologie des Fahrzeugs genauso wie für das Rauschmittel, selbst dann, wenn es eigenhändig gezogen wäre. Denn vor Jahrhunderten waren Generationen von Menschen nötig, damit das Wissen um die Wirkmächtigkeit der jeweiligen Pflanze für alle zuverlässig erwiesen war.

Deshalb ist es unzulässig, andere einfach so zu töten. Damit nutzten wir unsere Freiheit gegen jene Instanz, von der wir sie bekommen.

Das kann nur falsch sein. Noch einmal: Wir bekommen unsere Freiheit von anderen, indem sie uns dazu entlasten.

Und wir haben diese Freiheit nur, solange andere sie uns nicht nehmen.