Manche schlagen früher Alarm, als es vielleicht nötig erscheint. Die Empfindlichkeiten sind halt verschieden. Diese Ansicht klingt nett und rücksichtsvoll. Tatsächlich besteht zwischen Hochsensiblen und Grobfühligen ein Unverständnis, das ein Zusammenleben sozusagen ausschliesst. Im äussersten Fall kommt Hass auf.
Frühmorgens keifen die Amseln. Über Nacht muss es im Revier zu Verschiebungen gekommen sein. Bestimmt gibt es Tiere, die rascher anschlagen als andere. Gänse gelten als beste Wächter. Schnattert die eine los, wabert der Reiz wellenartig durch die Gruppe. Das lässt sich auf Knopfdruck wiederholen, indem man ein paar forsche Schritte in ihre Richtung unternimmt.
Hochsensibilität unter Menschen ist mittlerweile klinisch erfasst. Es gibt Fragebögen, die eine erste Klärung bieten. Was Moongirl mit Ja ankreuzt, kann ich für mich praktisch durchgängig verneinen. Trotzdem leben wir zusammen. Aber es gibt keinen Grund für die Annahme, dass sich unser Beispiel zur Nachahmung empfiehlt. Sensibilität ist eine graduelle Sache. Und mir scheint, wir haben einfach Glück, dass unsere Nuancen ein tägliches Zusammenspiel erlauben. Mit Ausnahmen, versteht sich, die aber nie von Dauer sind.
Mir ist bekannt, dass es Paare gibt, zwischen denen in dieser Hinsicht ein schärferes Missverhältnis herrscht. Ihnen ist also nicht das gleiche Glück beschieden wie uns. Beide kämpfen ums nackte Überleben, da die Diskrepanz nicht mehr zur Ruhe kommt, wenn sie etwa durch Zusammenlegung der Haushalte oder infolge Zuwachs an Kindern dauerhaft unter Druck gerät. Die Kritik des Partners wird zur Bedrohung. Der frühe Alarm hochempfindlicher Tiere löst einen zweckmässigen Mechanismus aus. Unter uns führt das zu Debatten darum, ob ein bestimmtes Verhalten normal ist oder nicht. Das gilt für die Person, die Alarm schlägt, genauso, wie für jene, die das für übertrieben erachtet.
An eine Normalität glaube ich schon lange nicht mehr. Stattdessen blicke ich in eine Welt voller Abweichung. Und das gefällt mir. Normalität gelingt allenfalls in der so genannten Öffentlichkeit, aber gewiss nicht in Beziehungen. Wer dort eine Normalität als Massstab beschwört, übt Verrat an der gemeinsamen Intimität.
Das ist leicht gesagt. Hochsensible sind auf klare Regeln, auf Normalität angewiesen, damit sie ihre Kräfte entsprechend haushalten. Die Schwierigkeit liegt darin, dass sie die Regeln, die sie andern abfordern, selber nur bedingt einhalten. Darin ist keine Überheblichkeit zu sehen. Wie denn auch? Hochsensible benötigen einen Spielraum für sich selbst, damit sie ihr Leben meistern. Der Spielraum anderer jedoch setzt sie unter Druck. Wer hier erbost Gerechtigkeit einfordert, sieht allerdings die Situation ungenau.
Das lässt sich noch deutlicher auf den Punkt bringen: Empfindsame sind auf ein Verständnis angewiesen, das sie andern gegenüber zu erbringen selten bis gar nie in der Lage sind.
Es reicht schon, dass ein hochsensibles Leben für sich genommen Kräfte kostet. Überdies leiden Hochsensible unter der Nachlässigkeit ihrer grobfühligen Partner, weshalb sie sie öfters massregeln. Interessant dabei ist, dass sie nicht einfach ein bestimmtes Versäumnis einklagen, sondern die jeweilige Regel in Erinnerung rufen, die man zweifelsohne schon längst verstanden hat. Das verspricht eben mehr Sicherheit. Darüber hinaus besitzen diese grobfühligen Günstlinge des Lebens die Unverschämtheit, dass sie sich leichterhand Situationen anpassen, die Hochsensiblen Stress bereiten. Auch wenn man sie als pedantische und umständliche Mimosen verurteilt, haben Hochsensible sich eine Stärke zugelegt, die gar nicht sichtbar ist. Und die Grobfühligen ganz gewiss abgeht.
Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass Hochsensible unter Traditionalisten oder allgemein Rechtskonservativen gehäuft vorkommen, da sie zum Erhalt der Regeln politisieren, auf deren verbindliche Gültigkeit sie mehr als andere angewiesen sind. Die politische Debatte um Erhalt oder Neuerung bekäme so ein anderes Gesicht.
Jedenfalls sollte ich wohl froh sein, dass die Dinge, die mich beschäftigen, nicht endlos nachhallen. Dass eine bequeme Lage, in der ich mich wohlgebettet fühle, sogleich in Hektik umschlägt, wie es Hochsensiblen täglich ergeht.
In Sachen künstlerischer Empfänglichkeit bin ich als Grobfühliger hingegen zu bedauern.
Das Leben benötigt wohl beide Typen, wenn auch nicht ausgerecht an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden. Uns bleibt sonst keine Lösung. Ausser eben diese Einsicht.
Und dass wir einfach anerkennen, was wir bei anderen nicht verstehen. So jedenfalls erklärt Richard Sennett, was Respekt sein soll.
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