Welche Lehre lässt sich aus dieser szenischen Smartphonesituation ziehen? Es sind mehrere möglich, doch nur eine gefällt mir wirklich.
Das Stück holt jeden woanders ab, heisst es oft und gerne. Oder: Jeder muss selber wissen, was er davon hält. Diese Einstellung ist heute zu einer Phrase verkommen, mit der man sich als unerhört reif und umsichtig darstellt. Tatsächlich entzieht man sich damit einer klaren Stellungnahme. Es gibt wenige Ausnahmen. Ob ein Kunstwerk gefällt, ist sachlicherweise jedem persönlich überlassen. Die Frage, ob Abtreibung gut ist oder schlecht, oder ob Umverteilung sich eher empfiehlt als freier Markt, richtet sich kaum an mein Gutdünken. Da muss man sich an Argumenten abarbeiten, die auf meinen Geschmack keine Rücksicht nehmen.
Diese scheinbar respektvolle Haltung beruht auf einem Anliegen, das mit den Jahren verblasst ist. Man könnte es halbwegs als Antifaschismus zusammenfassen: Es gibt eine Vielfalt an Menschen und Meinungen. Daraus folgt, dass man niemandem eine bestimmte Ansicht aufzwingen oder gegenläufige Meinungen mundtot machen darf.
Von diesem kleinen Lehrstück lassen sich aber gar nicht so viele Lehren ableiten. Am nächsten liegt wohl die Mahnung, dass Smartphonenutzer in unnatürlicher Weise einseitig leben. Sie bewegen sich kaum, sie blicken in die immer gleiche Richtung. Die Lehre wäre die, dass man die Leute zu mehr Abwechslung anregt.
Umgekehrt könnte es der Fall sein, dass ich Kritiker der Smartphonenutzung darüber belehre, dass die monotone Idiotie, die sie anklagen, auf unterschiedlichste Tätigkeiten schliessen lässt. Bevor man also die Verführbarkeit der Massen und ihre Blödheit am Bildschirm anprangert, muss man die Vielfalt dieser Beschäftigungen in Rechnung stellen.
Wieder anders gewendet könnte es heissen: Das Leben bringt Veränderungen mit sich. Es nimmt auf keine persönliche Gewohnheit Rücksicht, obwohl jede Sitte, jede Gepflogenheit aus genau diesem Leben hervorgeht. Aber dieses Leben geht eben mehrere Wege zugleich. So verschieben sich Schwerpunkte, oder kippen über Nacht in ihr Gegenteil.
Dieser Smartphonesituation lässt sich unter anderem ablesen, dass die Nutzer weniger Raum für ihre Tätigkeiten in Anspruch nehmen. Für all die genannten Beschäftigungen reicht die Ecke eines Sofas, während man früher dabei nicht nur viel Platz besetzte, sondern auch anderen Mitmenschen öfters in die Quere kam. Die zwischenmenschliche Reibung nimmt ab, was durchaus ein sozialer Vorzug darstellt.
Überhaupt leuchtet mir ein, dass Smartphones und sonstige Bildschirme unter Menschen Energien binden oder abschöpfen, die vor Einführung des Internets auf den Strassen ihre Abfuhr suchten, auf Hinterhöfen oder in Katakomben des Nachtlebens. Vielleicht hätten sich die Kinder vom Bahnhof Zoo mit ihren Smartphones in den Zellen der Gropiusbauten einstülpen lassen, wie es heute geschieht. Sie wären also nie an der Nadel gelandet.
Es kommt mir vor, als regulierte das Leben genau zur rechten Zeit einen Überschuss an Energie bei zunehmender planetarischer Dichte an Volksmassen. Ein Blick nach Japan wirkt in dieser Sache ungemein erhellend.
Die Frage, wie man das Leben für diese Entwicklung verantwortlich machen kann, stellt sich schlüssigerweise. Immerhin sind es Gruppen von Menschen, die planmässig daran arbeiten. Das Internet ging aus dem ARPANET hervor, das rein militärische Zwecke erfüllte. Später kamen Medizin und allgemein Wissenschaft dazu. Die Popularisierung dieses Netzes war von seinen Machern nicht vorgesehen. Der Kalte Krieg musste erst zu Ende gehen. Auch die Satelliten, einstmals zu Spionage und Aufklärung eingerichtet, kreisten seitdem nutzlos um die Erde, bis das Privatfernsehen zugriff. Auch die volkstümliche Kommunikation übernahm die verwaisten Geräte: Usama Bin Laden verübte seine Anschläge in Ostafrika über ein Satellitentelefon.
Sobald die Dinge zweckentfremdet werden, sobald Gruppen mit gegenläufigen Interessen an der gleichen Sache wirken, kann man sagen, das Leben insgesamt sorge für diese Entwicklung. Diese Rede ist meines Erachtens sogar sachlich begründet. Das Leben wird dann einfach zur Bezeichnung der Menge all dieser Interessensgruppen und ihrer verzwickten Wechselbeziehungen, bis und mit der Nutzer, deren Verhalten die weitere Entwicklung wesentlich mitbestimmt. Wer stattdessen einer Weltverschwörung anhängt, müsste zeigen können, wie man diese Zweckentfremdungen über Generationen hinweg planen, geschweige denn vorhersehen könnte.
Zweckentfremdung ist der Antrieb von Evolution überhaupt.
Und es fällt mir schwer zu glauben, dass irgendeine Gruppe von Menschen den Gesamtverlauf dieser Evolution über Jahrzehnte unter Kontrolle hat.
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