Fernost unterscheidet sich vom Westen, von Europa und den Staaten. Soweit so klar. Wenn ich aber mit Pantanjali oder Sri Aurobindo auf einem Sofa Platz nehme, um West und Ost in einen Austausch zu bringen, wird mir klargemacht, dass diese Denkweisen, soweit es Indien als Quelle betrifft, in die genau entgegengesetzte Richtung laufen, obwohl sie sich in beinaher Unkenntnis voneinander entwickelt haben.
Das beginnt schon bei der erstmaligen Anleitung zum Yoga, die Haltung und Einstellung zum Meditieren bespricht. Im Urtext heisst es sinngemäss, man halte sich vor Augen, dass man nicht, wie gewohnt, zwischen Möglichkeiten zum Leben die beste wählt oder überhaupt irgendeine Möglichkeit. Die Anweisung lautet:
Wähle, keine Wahl zu treffen.
Das mutet uns mythisch an, verfolgt aber bloss den Zweck, dass wir uns für die Meditation aus Verstrickungen in Alltag und Vergangenheit lösen. Eine verheerende Einstellung aus Sicht westlicher Kultur. Hier sollen wir richtig wählen, und zwar genau jene Möglichkeit, die das Leben aller zugleich fördert. Also haben wir unsere Wahl auch zu verantworten. Vergangene Fehler sind sorgfältig in Erinnerung zu halten, damit sie kein zweites Mal passieren.
Weiter wird zum Yoga gesagt, wir sollten uns keine ideale Vorstellung von der Wirklichkeit machen. Somit soll auch die Sorge um die Zukunft verstummen. Auch das läuft aus westlicher Sicht verkehrt. Es entspricht moderner Überzeugung, dass wir täglich in den Lauf der Dinge eingreifen, damit die Umstände sich verbessern. Dazu braucht es Ideale, die uns wie Karotten vor der Nase baumeln.
Die westliche Kultur findet ihren typischen Ausdruck im Denkstil der Naturwissenschaft. Dort gilt die Vorschrift, dass man Sachverhalte in ihre Bestandteile zerlegt. Von den Japanern wird gesagt, sie hätten sich vor diesem Klötzchendenken geekelt, als sie sich anschickten, die erste Übervorteilung wettzumachen, die sie durch die Vereinigten Staaten erlitten. Sich diese Denkweise anzueignen, war mit Scham behaftet. Inder fühlen sich ohnehin gegen den Strich gebürstet, wenn man erwartet, dass ein Ganzes in Teile zersetzt wird.
Für die Naturwissenschaft gilt strikte Trennung zwischen Beobachter und Gegenstand. Dabei kommt der Beleg als Drittes hinzu, bei dem zu gewährleisten ist, dass alle hirngesunden Menschen ihn nachvollziehen könnten. So kommt es in der Naturwissenschaft zu Objektivität, die genau genommen Intersubjektivität bedeutet, da man sich wechselseitig in der Überprüfung des Belegs bestätigt. Inder bemühen keine Belege, sondern finden sich im Austausch über Erfahrungen, die sie machen, in Rede, Bild und Ritual. Eine Form der Intersubjektivität schlechthin. Objektiv ist ihnen das Weltganze, die Gesamttatsache Kosmos. Daher kommt es sogar zu einer Identität zwischen Gegenstand und Beobachter selbst dann, wenn wir Sachverhalte verstehen, die ausserhalb von uns liegen. Denn beide sind im All-Selbst aufgehoben, womit letztlich Gott gemeint ist, allerdings nicht als Teil davon, sondern als einzeln verwirklichtes Ganzes dieser Ganzheit. Eine Sichtweise, die in der Naturwissenschaft aus klaren Gründen ausgeschlossen bleibt. Ebenso halten gleichgewichtige Gründe die Inder dazu an, dass sie am kosmischen Ganzen festhalten, ob es nun Gott heissen mag oder sonst wie.
Ein beachtlicher Unterschied betrifft die Auffassung davon, was das Böse ausmacht. Da wäre doch eine weltweite Einigkeit unter Menschen zu erwarten. Jedoch zeigt sich auch hier der Gegensatz zwischen West und Fernost in blanker Schärfe: Nach westlicher Empfindlichkeit verwischt das Böse sorgfältig gehütete Grenzen, sodass Ordnungen durcheinandergeraten. Darin ist es schlichtweg dämonisch, teuflisch. Inder hingegen fühlen sich zum Ganzen hin erlöst, wenn Grenzen um sie herum porös werden oder restlos fallen. Das Böse pfercht Leben ein, schliesst die Dinge voneinander ab. Was fliesst, gerät ins Stocken. Wo Europäer sich erst richtig wohl fühlen, geht die indische Abneigung sogar so weit, dass sie die Kraft zur Illusion erklären, die den Dingen Form gibt und sie sortiert, mithin die gesamte körperliche Welt. Das wäre streng genommen eine Absage an die Naturwissenschaft schlechthin.
Es fällt mir nicht ein, die fernöstliche Orientierung gegenüber der unsrigen zu verklären oder abzuwerten. Man müsste eine Synthese finden, die Entgrenzung und Begrenzung harmonisiert.
Wie es das Leben tut. Es bietet eine Synthese für Widersprüche aller Art allein dadurch, dass es Leben gibt.
Schon immer.
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