Würde Mozart heute leben, wäre er kein Musiker. Diese Behauptung versteht sich als These. Thesen erheben nur bedingt Anspruch auf Wahrheit, wie gerne unterstellt wird. Sie gehören zum Weltspiel. Wie die Musik Mozarts. Ihr Ehrgeiz erschöpft sich darin, dass sie anregen, sofern man sich damit beschäftigen möchte.

Mozart wäre heute nicht zwingend Musiker. Damit wird die These enthärtet. Genauso gut könnte er sich mit Mustererkennung abgeben. Auch vermute ich, das Prinzip der Modularisierung, also das Zusammenstecken von Teilen, die vorgefertigt und leicht angepasst sind, würde ihn in hohem Masse anregen.

Überliefert ist, dass ihm von väterlicher Seite verboten war, Mathematik zu studieren. Ein vergleichbares Bedürfnis ist mir von keinem sonstigen Musiker bekannt, der massgebend wäre. Dieses Argument allein stützt die These kaum. Und die Lust am Weltspiel lässt sich nicht so leicht abfertigen. Schauen wir also weiter:

Seit je wird über die Genialität Mozarts gerätselt. Als ich sein musikalisches Würfelspiel kennenlernte, befiel mich die Ahnung, dass er damit Einiges von sich verrät. Die lüpfige Arbeit fehlt im eigenen Gesamtverzeichnis seiner Werke. Mozart komponierte ein paar hundert Takte, die sich beliebig zusammenwürfeln lassen. Das Erstaunliche ist, dass jede zufällig gefügte Abfolge dieser Takte den Eindruck erweckt, wir hörten ein Werk, das in sich geschlossen und abgerundet ist, als wäre es eigens komponiert worden. Bach hätte diese Lustbarkeit allenfalls als sonntägliche Beschäftigung im Kreise der Familie durchgehen lassen. Ein Beethoven wäre dazu ausserstande gewesen, ihm fehlte die nötige Leichtigkeit.

Nun hat sich bei mir seitdem eine fixe Vorstellung von Mozarts Vorgehensweise festgesetzt, die ich nicht mehr loswerde, sobald ich seine Musik höre oder spiele. Mir kommt es vor, als bediente sich Mozart im Kopf bei einem Baukasten mit Versatzstücken von Melodieformen, die sich sozusagen beliebig zusammenfügen liessen. Die Konvention des Rokoko oder der Frühklassik gab die nötige Voraussetzug dafür, da die kontrapunktischen Tonbänder des Barock nun zu einzelnen Figuren portioniert wurden, die sich auch gerne unverändert wiederholen liessen. Diese Tonmodule standen sämtliche in Dur und Moll zur Verfügung, sodass sich Mozart auch ihrer Färbung bediente. Sie liessen sich beliebig ausschmücken oder verdichten oder entfalten und eigneten sich genauso als Thema wie als Variation. Mozart verband sie mitunter durch Girlanden von Tönen und liess sie Tonarten durchlaufen, während sie emporstiegen oder herunterpurzelten, anwuchsen oder herabschwebten. Seine Module waren durchwegs tänzerisch, jedes vertrat zugleich seine Umkehrung, legte seine Verkürzung nahe, sofern passend, oder seinen Ausbau. Dabei wird sogar ein fraktales Verhältnis unter diesen Tonformen erkennbar, indem sich die eine Ausschmückung ebenso als orchestrales Unisono eignet wie umgekehrt. Aber das hat genauso viel mit der Musik selbst zu tun.

Mir scheint, dieser Baukasten bildet unverändert eine Konstante in Mozarts Schaffen von Anfang bis Ende. Aus diesem Vorrat fertigte er mit derselben Leichtigkeit Quartette an sowie ganze Opern und allgemein Orchesterwerke mit oder ohne Chorsatz.

Gut möglich, dass er dieser Leichtigkeit irgendwann überdrüssig wurde.

Doch die feinsinnige Musikalität Mozarts spricht gegen meine These vom Baukasten. In seinen späten Werken macht es ab zu sogar den Anschein, er könnte zum Romantiker kippen. Davon gab es zur Zeit seines Todes noch keinerlei Anzeichen in der Gesellschaft. Goethe hatte seine Italienische Reise noch gar nicht verarbeitet. Vielleicht liegt die Feinsinnigkeit daran, dass Mozart zum Publikum eine Art mechanisches Verhältnis pflegte, indem er den Effekt unter der Zuhörerschaft wahrnahm und ihn mit der entsprechenden Musterfolge und ihrer Färbung und Dramatik tabellarisch verbuchte.

Allerdings muss ich annehmen, dass meine These vom Baukasten wohl gleichermassen auf andere Musiker passt. Das mag in technischer Hinsicht zutreffen. Mozart hat jedoch nie über seiner Arbeit gebrütet, wie es reichlich verbürgt ist. Nie hat er um den bestmöglichen musikalischen Ausdruck ringen müssen, wie man es zum Beispiel von Chopin her kennt oder von Beethoven, der die Bögen seiner Formensprache immer weiter und höher treibt und dazwischen wie ein Hulk grandiose Landungen hinlegt.

Mozart scheint über den Baukasten im Taschenformat verfügt zu haben, während andere Musiker darin herumkramen. Ein Mathematiker, der zur Musik abbestellt wurde. Angeblich sehen die Anthroposophen in Mozart eine Wiedergeburt von Pythagoras. Aber vielleicht gibt er einfach den besten Beleg dafür ab, dass gewisse Leute ein bestimmtes Betätigungsfeld gerade dank des Umstandes befruchten, dass sie fachfremd hineingeraten sind.

Vielleicht fühlen sich eher Programmierer in Mozarts Vorgehen gespiegelt. Sie könnten ihn als ihren heutigen Kollegen begrüssen.