Die Weiden leuchten. Ihre Ränder sind geschoren, als wären Friseure am Werk gewesen. Kühe ruhen wie Schiffe in einem Meer von Licht. Sie malmen vor sich hin. Selbst die Zäune wirken frisch. Die zahllosen Durchgänge sind für uns Wanderer artig instandgehalten. Ein ausgereiftes Landleben, das Touristen aus aller Welt in Erstaunen versetzt. Genauso gut kann es einen das Fürchten lehren, wenn ein ganzes Volk eine derartige Perfektion ableistet. Das geht nicht ohne sozialen Druck, nicht ohne Selbstkontrolle, die ängstlich vorsorgt.

Die Tradition erhält sich touristisch am Leben. Die Gastfreundschaft verläuft daher nach Bilderbuch: Mundart, Blumenbestecke, gemalte Fassaden, Trachten, rotwangiges Lachen, Brauchtümer. Man hält Rezepturen von Käse und Kräuterbrand geheim und schlägt aus diesem Geheimnis Profit. Und die regionale Bank wirbt mit der sprichwörtlichen Dunkelheit im Innern der Kuh.

Aber wehe, ein Gast bleibt, lässt sich nieder in einer der vielen Gemeinden! Wehe er schickt sich an, die Ordnung hier zu verändern! Dann benehmen sich die Einheimischen unverhofft wie ihre eigenrassigen Hofhunde und beissen dir in die Wade. Ihr Zuvorkommen verträgt sich schlecht mit einer solchen Bissigkeit. Immerhin besteht die politische Spannung zwischen Bewahrung und Veränderung seit je unter Menschen fort, wenn auch nicht überall in dieser Deutlichkeit wie hier. Die Bissigkeit belegt das hohe Gut, das verteidigt wird, weil es von Regeln abhängt, von Satzungen der Tradition, damit es fortbesteht.

Bewahrer und Veränderer bekämpfen sich, verachten sich, hassen sich. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass sie unter anderem Vorzeichen im Leben unterwegs sind: Der Traditionalist sichert ein Regelwerk, das ihm Schutz bietet und seinem Leben Klarheit verschafft. Progressive hingegen bekämpfen es, da es sie zu ersticken droht. Sie sehen andere Dringlichkeiten, die von der Tradition missachtet bleiben. Mitunter fühlen sie sich in jungen Jahren auf das Regelwerk rüde abgerichtet, sodass sie später keinerlei Verpflichtung zu seinem Erhalt empfinden. Wie so oft entgeht beiden Parteien eine Gemeinsamkeit, die augenfällig wäre: Der Bewahrer verliert Schutz und Klarheit, der Progressive rennt gegen ein Gefängnis an, das seine Entfaltung unterbunden hält. Beide handeln letztlich aus einem Selbsterhalt, der sie ins Recht setzt, gegen den Andern vorzugehen.

Ihn notfalls zu beissen.

Selbsterhalt bedeutet Todesangst. Eine Natürlichkeit schlechthin, die beide betrifft und die wir laufend übersehen, obwohl sie offenbar wäre. Die Moderne hat dafür nur ein halbblindes Auge.

Das Appenzeller Geheimnis lässt sich vielleicht auf eine besondere Weise enträtseln, die mit den Rezepturen nichts zu tun hat. Denn die Verschwiegenheit der Appenzeller über ihr Käserezept lässt sich mit dem Kuhdunkel kurzschliessen. Vielleicht liegt hier ebenfalls eine grandiose Natürlichkeit verborgen, die uns unbewusst ist.

Denn Käse besteht aus Milch.

Und Milch ist in jedem Fall Muttermilch.

Sie entsteht in den Mägen der Kuh, die geboren hat. In ihrem sagenhaften Dunkel, gespeist von Kräutern der Weiden und von Nährsalzen kalkhaltigen Gesteins.

Wir trinken Muttermilch. Man könnte das genauso gut für pervers halten, zumal wir sie verarbeiten und damit einen ganzen Wirtschaftszweig betreiben. Dieser Natürlichkeit sind wir uns nicht bewusst. Daher bringen wir ihr auch keine Wertschätzung entgegen, obwohl es da um Demut geht, um Würdigung der Mutterschaft überhaupt, wie sie seit Jahrunderten vor Bildstöcken der Mutter Gottes gepflegt und geübt wird, insgesamt um eine Abhängigkeit von der Natur, die Progressiven wenig behagt.

Womöglich liegt da der eigentliche Grund dafür, dass Appenzeller, wenn es ansteht, durchaus bissig werden können.