Wir halten uns für aufgeklärt. Manchen Tabus sind wir zu Leibe gerückt. Aber es gibt welche, die unerkannt fortwirken. Sie werden nur dann sichtbar, wenn man sich in die Tiefenschichten des Lebens einlässt. Man könnte sie Tabus zweiter Tiefenordnung nennen.
Ein paar Beispiele möchte ich darlegen, die ersten sozusagen als Fingerübung, jedoch bei steigendem Anspruch an Verkraftbarkeit. Denn zumutbar ist alles, was menschlich ist. Oder, wie ein französischer Autor sagte:
Nichts Menschliches kann uns fremd sein.
Nun also die Beispiele: Kurios für manche, wenn jemand mit Dummies Verkehr hat. Das Tabu besagt, dass sozial Erfolglose als Ersatz einer Partnerin auf Puppen ausweichen. Ein Blick in die Tiefe dieser Sache ergibt eine andere Sicht:
Es geht wohl um eine Leidenschaft, die man Genuss an völliger Willenlosigkeit nennen könnte.
Das geschieht vielleicht zur blossen Erholung, bei der man garantiert vor Schuld bewahrt bleibt. Gründe für diese Neigung sind für die Betreffenden sehr wohl gegeben, auch wenn sie darüber keine Klarheit gewinnen. Angebote im Rotlichtbereich sind kostspielig. Auch hindert eine gewisse Scham vor dieser Art der Abfuhr mit einer anderen Person.
Vergewaltigung ist kein Tabu mehr. Im engeren Umfeld von Betroffenen aber herrscht nach wie vor Schweigen. Zudem findet sich darin ein tiefsitzendes Tabu, das dem Opfer kaum über die Lippen kommt, aus Angst, man könnte es der Mitschuld bezichtigen. Eine Frau widersteht der Gewalt, bis sie nachgibt. Das dürfte als eine Art Sterben begreiflich sein. Vielleicht erleidet sie dann Lust wider Willen.
Vielleicht jedoch erfuhr sie dann Lust wider Willen. Es gibt wohl keine Worte für das Unglück, für die Tiefe der Wunde, die ein erzwungener Orgasmus zur Folge hat.
Bulimie ist eine heikle Sache. Die Betroffenen wären einem Schönheitswahn verfallen, der zur Sucht zum Tod wird. So die gängige Offenlegung dieses Tabus. Neuerdings stösst man im Netz auf Filme, in denen Menschen verschiedenen Alters und beider oder vielerlei Geschlechts intimstes Verhalten darbieten. Und es versteht sich, dass man diese Darbietungen mit der gebotenen Sachlichkeit und Kühle und selbstverständlich völlig lustneutral zur Kenntnis nimmt, wenn man glaubt, darüber schreiben zu müssen. So erleben wir unter anderem Frauen, die ihr Erbrechen filmen. Wer sich darauf einlässt, gewinnt vielleicht den Eindruck, dass es sich dabei um eine besondere Art von Selbstbefriedigung handelt. Die Frauen lassen sich Zeit. Eine Steigerung des Vorgangs ist zu bemerken, ebenso seine Verzögerung, die gleichfalls zunimmt. Allerdings ist echte Lust dabei schwierig zu unterstellen. Immerhin belegen die Kunden, die Coins dafür vergeben, dass Tabubrüche in aller Echtheit und in Hülle und Fülle begehrt sind. Und es stehen mehr Coins in Aussicht, je echter die Darbietung erscheint. Je echter sie ist. Aber die Echtheit bleibt dem Model vorbehalten.
Was Bulimie angeht, so wäre auch die These von der Selbstbefriedigung plump und oberflächlich. Anzunehmen ist vielmehr, dass diese Menschen in dem Moment, in dem sie erbrechen, ganz zu sich selbst finden. Wer Tabubrüche geniesst, gilt für abartig veranlagt. Aber das muss nicht der Fall sein. Zu bedenken ist, dass bereits Höhlenmalereien im Zusammenhang mit der Tötung eines büffelartigen Tieres von der sexuellen Betroffenheit bei einer Grenzüberschreitung handeln [p. 37-41]. Die lustvolle Rührung dieser Art ist gemäss Darstellung unmittelbar an das Selbstbewusstsein gekoppelt, was daran kenntlich wird, dass die Erregten zugleich Vogelköpfe auf dem Hals tragen. Es könnte sein, dass dem Tabu von der Überschreitung als Genuss heute ein erschreckend einfacher Sachverhalt zugrunde liegt:
Nämlich Impotenz. Bei Männern, versteht sich.
Sie ist eben nicht nur organbedingt wie im Alter. Ihre sonstigen Ursachen sind Schuldgefühle oder geringes Selbstbewusstsein. Ich halte es für schlüssig, wenn man Tabubrüche ganz schlicht als Potenzmittel nutzt. Ein Kopfkino hilft der Manneskraft auf die Sprünge. Die handliche Formel dazu könnte lauten: Je schlaffer die Potenz, um so perverser das Mittel. Denn eine Steigerung dürfte auch hier unabdingbar sein. Vielleicht bringt diese Vermutung Klarheit nicht zuletzt auch zur Päderastie. Dieser Weg jedenfalls beginnt bei einem weiteren verdeckten Tabu, wenn die Potenz erlahmt und andere Mittel aus verschiedenen Gründen ausgeschlossen sind:
Nämlich bei der körperlichen Selbstliebe im Spiegel.
Stichwort Päderastie: Da ist auch das letzte Beispiel angesiedelt, es mag das dunkelste Tabu im Tabu sein. In Schutzzonen des Vertrauens, allen voran in Familien kommt es zu Übergriffen. Manche Aufklärungsarbeit war vonnöten, dass Missbrauch enttabuisiert wird. Opfer erfahren therapeutische Zuwendung, der Täterschaft wird tätige Reue abverlangt.
Was aber ist mit jenen Opfern, die am Übergriff Gefallen fanden?
Auf ihnen lastet die Schuld, dass sie diese Schande als Freude missdeuteten. Wie man verschiedentlich erfährt, müssen Übergriffe keineswegs nur gewalttätig und erpresserisch sein. Genauso verlieren sie sich bis zur Unkenntlichkeit in Nuancen von Zärtlichkeit und Spiel. Eine deutsche Wissenschaftlerin hat die dunkle Thematik von genau dieser Seite beleuchtet, und ich werde sie hier fussnoten, sobald ich die nötigen Quellen wieder gefunden habe.
Die Zustimmung der Opfer entschuldigt den Übergriff nicht. Aber die Gesellschaft hat noch keinen Grossmut und folglich auch noch keine angemessenen Worte, um dieses Tiefentabu anzunehmen.
Um so auch diesen Opfern gerecht zu werden.
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