Selbst in einer Beziehung entzweit man sich leicht darüber, welches Verhalten die Norm erfüllt und welches davon abweicht. Auch in Familien bleibt man vor solchen Debatten nicht verschont. Ein Kräfteverschleiss erster Güte.

Aber diese Debatten sind keine neumodischen Launen. Immerhin brachte strikte Gleichschaltung in Norm und Regel zwei Weltkriege hervor. Die Shoa gelang nur dank normativer Hörigkeit. Grund genug, diese Gleichschaltung abzuschaffen. Mit allen Mitteln. Das ist die Leistung der Postmoderne. Aber auch sie übertrieb ihr Anliegen. Wie immer, wenn man auf sicher geht.

Nun belasten Debatten um normales und abnormales Verhalten heutzutage Familien und Partnerschaften. Im Streitfall berufen wir uns auf eine Mehrheit, die namenlos bleibt und abwesend. Sie soll dafür bürgen, dass ein bestimmtes Benehmen völlig normal oder völlig abnormal ist. Auf einmal holen wir fremde Ansichten herein, die sonst sorgfältig aus dem Spiel gehalten bleiben.

Damit üben wir eigentlich Verrat an der Intimität, die wir mit anderen Menschen teilen.

Auch halten wir die Tatsache ausgeblendet, dass wir für diese Mehrheit über keinen einzigen Beleg verfügen als unsere plumpe Gewohnheit, die genau genommen zufällig ist und sehr persönlich und lebensschwer. Eine passgenaue Statistik mit Vergleichswerten, die wiederum verbürgt wären, ist für die jeweils sehr besondere Angelegenheit so rasch nicht zur Hand.

Eine erbärmliche Grundlage für den Anspruch, dass wir verbindlich über normal und abnormal meinen urteilen zu können. Vielleicht sind wir einfach nur erbost darüber, dass jemand, den wir lieben, ganz beiläufig eine Selbstverständlichkeit in Zweifel zieht, die unserem Leben Form gibt. Das wäre letztlich eine rein ökonomische Angelegenheit. Und die Entschiedenheit, mit der wir unsere Norm verfechten, zeigt nur, dass wir uns angegriffen fühlen.

Was immer wir für normal halten, ist keine feste Grösse. Sie kann es gar nicht sein, weil sie in den Gezeiten menschlicher Geschichte ausdünnt und erodiert. Oft kehrt sie wieder, im Stil einer Mode oder unscheinbar, jedoch nur auf Zeit.

Was bleibt zu sagen? Die Extreme wetzen sich aneinander: Entweder ist mein Partner chaotisch oder ich pedantisch. Entweder ist das Kind verwöhnt oder feinsinnig oder die Eltern änstlich oder überempfindlich.

Beim kubanischen Salsa wird eine Begegnung unter Geschlechtern geübt, die zur Streitfrage Normalität einiges bildhaft beiträgt: Paare bewegen sich wie Planeten, die um sich kreisen und im wechselseitigen Spiel ihrer Schwerkraft eine Mitte bilden, die man Normalität nennen könnte. So verhält es sich wohl unter Menschen überhaupt.

Anziehung, Abstossung, Vereinigung, Lösung.

Aus diesem reichen Spiel an Schwerkräften ergibt sich flüchtig so etwas wie Normalität. Auch unter Völkern und Kulturen dürften die gleichen Schwerkräfte wirksam sein. Und jede Mehrheit, mag sie noch so sehr von der zeitlosen Gültigkeit ihrer Norm überzeugt sein, mag man sich auch gegenseitig die jungfräuliche Geburt bestätigen oder die Verschränkung von Schwarzen Löchern, wofür es sehr wohl Anlässe gibt, diese Mehrheit kreist unabhängig ihrer Grösse pro Kopf letztlich einsam um sich selbst.

Und um die Sonne.

In einem immensen Raum des Schweigens.