Letzthin besuchte ich das Gebäude einer pädagogischen Hochschule, wo ich vor Jahren, als es noch ein Seminar war, zur Lehrkraft ausgebildet wurde. Die Räume waren bedeutsam leer, wie heute üblich an solchen Einrichtungen. Sonst fand ich keine äusserlichen Unterschiede zu früher. Nur die Treppengeländer hatte man erhöht, wohl aufgrund von Neuauflagen allgemeiner Sicherheit.
Im Eingangsbereich prangte an der Wand eine grössere Tafel mit der Überschrift «Perspektivenwechsel». Das fand ich einsichtig, schliesslich bildet sich eine gesunde Selbstkritik, wie für Lehrkräfte besonders nötig, nur dann heraus, wenn man seinen Blickpunkt laufend ändert.
Auf dieser Tafel standen Kurzberichte einiger Absolventen über ihr Austauschsemester versammelt. Nostalgisch gestimmt von diesem Ort las ich interessiert und guten Willens die kurzen Texte, von denen ich erwartete, dass sie viel Inhalt in treffende Worte fassen. Nach drei Beispielen zeichnete sich ein Muster ab, das mich erst stutzig machte, dann ungläubig. Schliesslich trieb es mir Schaum vor den Mund.
Vielleicht sollte ich erst Gegenbeispiele anführen, damit klar herausgetrieben wird, woran ich mich stosse. Zum Beispiel Feststellungen aus Enzensbergers Länderreportagen zu Europa. Ohne sein Niveau als Massstab zu setzen, kann man doch etwas mehr Aufmerksamkeit erwarten: Norweger, so Enzensberger, verweigern sich dem modernen Leben trotz Erdölwirtschaft. Die Schweden zeigen Stolz, wenn sie sich dem Staat unterordnen. Italiener hingegen haben kein soziales Gewissen, sie misstrauen wohl zurecht einem fürsorglichen Staat. In Ungarn blühte die Privatwirtschaft trotz stalinistischer Verhältnisse. Aberglaube und Unbeholfenheit sind bei den Portugiesen als eine Form des Widerstandes anzusehen, als stille Sabotage.
Natürlich käme nun die Frage, warum das so ist. Aber Enzensberger enthält sich irgendwelcher Thesen, deutet sie allenfalls an. Er ist Schriftsteller, nicht Wissenschaftler, in erster Linie aber aufmerksamer Mensch.
Thesen waren bei diesen Perspektivenwechseln nicht einmal im Ansatz welche zu finden, obwohl die Pädagogischen Hochschulen im Auftrag demokratischer Entscheide Wissenschaft zu betreiben haben. Aber lassen wir hören:
Da findet zum Beispiel eine Studierende kulturelle Aspekte auf dem Balkan sehr interessant. Punkt. Jemand traf in Orléans eine tolle Studententruppe und herzliche Leute. Punkt. Ein Gaststudent aus Regensburg findet uns toll und nett. Immerhin erwähnt er ein gemeinsames Fondue auf der Terrasse. Jemand hat in Malmö viel über sich und andere gelernt. Punkt. In Berlin gibt es so viel Tolles und Schönes. Auch Interessantes, zum Beispiel Männer mit High-Heels und blauen Bärten.
Aber warrrummmm ist das sooo????
Ein Student schwärmt von einer tollen Erfahrung, die er in Fribourg machen durfte. Auch in Hengelo gibt es nette und offene Menschen. Und die in Orem Utah haben ein unglaublich anderes Schulsystem, mit vielen Pros und Contras. Natürlich kann man auch in Graz einmalige Erfahrungen machen.
Die wenigen Dozierenden unter den Berichtenden machen es nicht besser. Ihr Vorbild ist kläglich: Der Leiter der Fachstelle Internationalisierung hat von irgendwoher irgendwelche Grundsätze mitgenommen. Ein Heidelberger Professor rühmt einen spannenden Austausch. Und jemand hat in Weimar zahlreiche Impulse für seine Lehrtätigkeit erhalten.
Einzelheiten, Begründungen, keine. Auch keine konstruktive Irritation, die für etragreiche Wissenschaft unabdingbar wäre. Immerhin nannte jemand seinen Ansporn für ein Austauschsemester, nämlich Lust auf Abwechslung. Dafür die Aufmachung der Tafel: Gigantisch, grossflächig, gerahmt, direkt über dem Lederpolster für Besucher. Fehlte noch hinter Glas.
Ein wahrer Leistungsnachweis! Aber ach, ein Nachweis nur.
Damit konnte die Hoschschule gewiss manches Soll nachweislich abhaken. Und mit Sicherheit gehörte ein Kurzstatement über das Austauschsemester zu den Anforderungen höchster Punktevergabe. Kurz vor dem längst festgesetzten Termin wurde etwas aus den Fingern gesogen, das möglichst keinen Anstoss erregen sollte. Thesen sind heikel heutzutage. Sie könnten beleidigen. Und zu Klagen anreizen. Und man möchte ja keine Punkte verlieren.
Auch keinen halben Punkt.
Wenn es die gäbe.
Januar 1, 2017 at 12:31 pm
Danke für deine spannende und durchaus interessante Beitrag!! Du stellst ein Symptom unsere digitale, durch Kurzzeitgedächtnis geprägten Gesellschaft fest. Klar beschränken sich zukünftige Beurteilungen auf “Daumen-hoch”. (10 Daumen-hoch gibt einen ECTS. Alles transparent und messbar! Unbedingt lesen: Dave Eggers’ Roman The Circle).
Aus der Funkstille schließe ich, befürchtend, dass du ein rufende in der Wüste bist.
Januar 1, 2017 at 8:36 pm
Dank dir. Buch habe ich notiert. Die Oberflächlichkeit, so hat mich jemand aufgeklärt, komme auch von daher, dass die Leute rasch beleidigt sind und vor Gericht gehen. Ein eigenes Thema. Gruss P