Eigenarten verändern sich unmerklich. Die Schweizer nahmen irgendwann ihre viehische Brutalität zurück. Die Polen, bekannt dafür, dass sie sich in ihrem Leid suhlen, taumelten früher von einem rauschenden Fest zum anderen.
Eigenarten werden zu Stereotypen. Oder sie verschwinden.
Diese Veränderungen haben Gründe. Wie alles, was Menschen angeht. Polen wurde zwischen dem Riesen Asien und seinem Zipfel Europa mehrfach zerrissen. Dieses Schicksal suchten die Schweizer abzuwenden, als die europäischen Häuser zu Grossmächten auswuchsen.
Auch die einzelne Person verändert sich. Da mag der Wunsch, man möge so bleiben, wie man ist, noch so oft ausgebracht werden. Sie erleidet schockartige Veränderungen ihres Charakters. Oder sie mausert sich über Jahre zu einer anderen Person, ohne dass sie sich eigens Ziele dafür setzt, oder dazwischen Meilensteine veranschlagt, damit sie Rückschau hält und Massnahmen anpasst.
Bewusste Ich-Veränderungen scheitern meist kläglich. Das zieht die gesamte Beratungsindustrie in Frage und erkärt sie zugleich.
Lacan meint, jede Angst sei letztlich Angst vor der Auflösung des Ichs. Genauer die Angst vor dem Verlust einer Gewohnheit mit sich selbst. Und Neurobiologen schlussfolgern, jede Gewalt sei aus Sicht des Täters, ob entschuldbar oder nicht, ein Akt der Verteidigung. Folglich eine Angst und damit eine Angst vor dem Ich-Tod. Nur schon Selbstironie empfinden manche als Gefahr. Dabei wäre sie die beste Tugend überhaupt.
Die Angst vor dem Ich-Tod sorgt sei je für soziale Probleme. Daher die Frage: Warum hängen wir so am Ich, wenn es sich ohnehin verändert? Das Leben liefert am Laufmeter Gründe dafür. Aber wir geben erst nach, wenn der Leidensdruck seinen Gipfel erreicht. Das lässt sich leicht moralisieren. Aus ökonomischer Sicht erklärt sich das fast von selbst.
Marcel Proust hat vor seinem Tod zu seinem früheren Ich in etwa Folgendes gesagt: «Weisst du, im Verlaufe meines Lebens, bin ich ein anderer Mensch geworden, auch mit jeder Frau, an deren Seite ich meinen Weg ging. Daher habe ich keine Angst mehr vor dem Tod.»
Seitdem ich Proust lese, schwindet mein Verständnis für Leute, die unablässig mit sich selbst beschäftigt sind. Aber auch sie haben ihre Gründe dafür.
Deshalb: Lass uns Ich-Tode sterben.
Wir tun es auch für andere.
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