Es ist Mode, den Westen zu hassen. Auch von innen. Wie könnte man den Westen lieben? Immerhin steht er weltweit unter Druck. Eine Liebe zum Westen müsste eine therapeutische sein. Das meine ich ohne Verachtung.

Pünktlichkeit, Leistung, Fleiss, Ausdauer, Sparsamkeit, Bürokratie, Versicherungen, Bankeinlagen. All dies drückt mehr oder weniger unser aller Leben. In Lateinamerika tanzen sie an der Sonne. Salsa, Samba, Cha-Cha-Cha. Da kommt schon Neid auf.

Die gängigen Nachteile bei jenen Völkern sind leicht aufzuzählen. Wie immer bei Stereotypen. Korruption, Lynchjustiz. Das gibt’s im Westen nicht. Oder nicht so roh, besser gesagt. Aber das kommt uns nicht in den Sinn, wenn Schulaufgaben ganze Familien zum Kochen bringen. Wenn man die Kleinen jeden Tag morgens um sechs aus dem Bett holt.

Warum ist die westliche Gesellschaft so, wie sie ist? Auch hier sind Erklärungen bei Fuss: Gier, Machtstreben, Entfremdung von der Natur. Die Gesellschaft wird wie eine Person behandelt. Das schärft das Feindbild, macht es handlich und nutzbar. Dann aber ist es die falsche Person.

Denn die westliche Gesellschaft ist eher wie jemand, der mehrfach aufs Übelste missbraucht wurde.

Und sie hat jeden Übergriff, jede Schändung, die sie erlitt, genau verbucht. So errechnet sie die Mittel, die sie zu ihrem Schutz aufwendet, legt Sicherheitsdispositive, die bis in die Familie, bis ins intime Leben wirken. Ihre Erbarmungslosigkeit vergleicht sich mit der Panzerung, die ein geschändeter Mensch sich zulegt.

Was wir als Gier und Machtstreben orten, ist Mittel, nicht Ursache der Sicherheit. Auch die Entfremdung von der Natur hat soziale Vorteile. Man gewinnt so Abstand zu den eigenen faschistischen Instinkten. Das erklärt auch die Bürokratie Brüssels, die mit störrischen Nationalgefühlen aufzuräumen gedenkt. Offenkundig hat sie dabei ein gesundes Mass überschritten.

In Lateinamerika gab es engräumige, zeitlich begrenzte kriegerische Konflikte, aber es kam nie zu einer flächendecken Katastrophe, die ganze Völker in voller Breite niederwalzte oder vor sich hertrieb. Europa als Wiege des Westens kennt eine ganze Liste davon: Hunnenstürme, Bauernkrieg, Hugenottenkrieg, Dreissigjähriger Krieg, Hundertjähriger Krieg, Siebenjähriger Krieg, Revolutions- und Koalitionskriege, Einigungskriege, die beiden Weltkriege und der Kalte Krieg, der als Grosskatastrophe in der Schwebe gehalten blieb.

Der Westen lässt sich nicht von heute auf morgen ändern. Sein Heilungsprozess dürfte länger dauern. Zur Zeit regt sich erneutes Zittern. Einmal mehr möchte man am liebsten durchgreifen, Pestizid in die ungefähre Richtung versprühen, aus der Gegner zu vermuten sind.

Diese Umwertung sei denen ans Herz gelegt, die dem Westen krankhafte Paranoia vorwerfen und zähneknirschend und voll Hader seine Sicherheitsdispositive befolgen oder ausführen. Ich habe lange zu ihnen gehört. Oder die den Westen bekämpfen. Sie übersehen, dass er wie jemand ist, der beim geringsten Anreiz panisch um sich schlägt. Seine Sicherheitsdispositive verschärfen sich sofort.

Im Wissen um diese Lesart fühlt man sich wenigstens nicht versklavt. Oder man sieht die Gründe. Und das ist heilsam.

Denn wo immer Menschen sind, da gibt es auch Gründe.