Die Frage nach dem Ich wäre vor 1800 nicht verstanden worden. Heute wird jeder damit beschäftigt, der sich analysiert sieht. Und analysiert werden wir überall. In Schulen, in Familien, am Arbeitsplatz, selbst in Intimbeziehungen. Nicht die Frage, wer man ist, interessiert, sondern: Was heisst es eigentlich, jemand zu sein?
Bin ich ein Perverser für mein ganzes Leben, wenn ich einmal aus Neugierde einem kleinen Frosch die Beine abgerissen habe? Ist eine Frau mit Silberblick eine Schlampe durch und durch oder einfach ein Mensch, der unter Druck steht? Diese Beispiele verraten unsere platonische Einstellung, die aus tausendjähriger Tradition herrührt. Heute weiss man: Niemand muss die Dinge so sehen. Und uns selber auch nicht.
Das Ich als eine schwer lesbare Tiefe mit verborgenem Kern, so lautet ein dominantes Ich-Konzept der bürgerlichen Moderne. Doch niemand will wissen, ob wir dort in tiefster Tiefe eine blaue Blume finden oder das gelbe Nichts roher Triebhaftigkeit.
Richard Sennett zeichnet den Weg nach, wie wir zu dieser Auffassung kommen. Noch vor der Tiefenarbeit der Psychoanalyse beginnt die Geschichte an der Oberfläche, beim Produktdesign. Das Handelsbürgertum stellt fest, dass ansprechend gestaltete Güter sich besser verkaufen. Von da an verlagert sich das Produktdesign auf die Person. Nach dem Vorbild des Adels soll sich ihr Design aus einer beschämenden Welt voller Zufälle und roher Charaktere herausheben.
Wo man aber Dinge verbirgt, wie eben den natürlichen Charakter hinter dem Design, kommt es zu grösserer Wachsamkeit. Je mehr die Leute ihre lesbare Natur verbergen, desto präziser wird eine Entzifferungstechnik gegen sie in Anschlag gebracht. Nuancen im Verhalten, in der Wortwahl bekommen ungeahnte Wichtigkeit. Eine Charakteroffenbarung zur Unzeit veranlasst scharfe Urteile, was zu sozialem und geschäftlichen Nachteil gereicht.
Sicherheitshalber trägt man ausdrucksarmes Schwarz. Frauen schnüren das Mieder und üben den Silberblick, weil sie sich sogar zu Hause unter scharfer Beobachtung wissen. Wie immer setzt früher oder später die Gegenbewegung ein.
Sie beginnt mit der Hysterie. Und Freud bekommt alle Hände voll zu tun.
Heute stülpen wir Gefühle förmlich nach aussen, in der Angst, wir könnten infolge Mobilität und Autonomie einander abhandenkommen, so Sennett.
Gefühlsausdruck als eine Art sozialer Klebstoff.
Auch gilt das systemische Konzept vom Ich als Haut, das semipermeabel gewisse Dinge hereinlässt, andere draussen behält. Dieses Modell mutet doch sehr biologistisch an.
Am besten besinnen wir uns auf vorkapitalistische Verhältnisse zurück. Fremde Menschen waren damals zwar unbekannt, aber niemals fremdartig. Der natürliche Charakter gab jederzeit und überall eine gemeinsame Basis zur Begegnung, er war frei und spontan gesellig. Nur so war man in der Lage, im Alltag über die Runden zu kommen.
Man wusste um die Natur des anderen, und man wusste, dass man es wusste.
So ist es doch heute genauso. Oder etwa nicht?
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