Die Kirche schlug die halbe Stunde. Und sogleich fuhr das Postauto los, als hätte der Glockenschlag seinen Start ausgelöst. Ich war schockiert. Was für eine Präzision! Und vor allem: Wie normal!

Nicht zu vergessen meine eigene notorische Pünktlichkeit. Die Schweiz ist ein Uhrwerk. Antriebsfeder, Kontakthebel, Bolzen, Aufziehschlüssel.

Wer sich an der Schweizer Eigenart stört, zieht sie leichterhand ins Lächerliche: Der korrekte Spiesser in seinem Gärtchen. Alles spricht er verkleinert aus, nicht aber den Namen seiner Währung.

Man kann sich allerdings über jede Eigenart spielend auslassen. Ebenso leicht kann man an ihr, wenn man ihr gut will, Eigenwilligkeit und lebendigen Stursinn herauskehren.

Dabei sind Eigenarten nur Momentaufnahmen. Sie verändern sich. Die platonische Einstellung, die wir ihnen entgegenbringen, trifft nicht zu. Der Spiesser im Gärtchen jedenfalls ist neueren Datums. Vor Jahrhunderten waren Schweizer europaweit als brutale Vergewaltiger berüchtigt. Angeblich schnitt man zu Marignano ihren Leichen Fett aus der Seite und verarbeitete es unter dem Branding ‚Schweizer Speck‘ zu Potenzmittel.

Heute gilt das Uhrwerk. Manche Ausländer erkennen darin Sorgfalt, Respekt und Friedfertigkeit. Man muss schon in diesen Verhältnissen aufgewachsen sein, um sich daran zu stossen.

Denn das Uhrwerk hat seinen Preis. Und seine Geschichte.

Die Kosten sind das Eine, das Andere die zwischenmenschliche Reibung dieser passgenauen Abläufe. Die Selbstmordrate liegt wesentlich höher als in Italien, wo man sich um dieses Uhrwerk keinen Deut schert, höher auch als die Raten im gesamten Mittelmeerraum.

Das sind Extremwerte. Im Mittelfeld herrschen Ängste auf hohem Niveau: Vorsorge, Pension, Bankeinlagen, dritte Säule. Gesellschaftliche Umverteilung, Schuldenbremse.

Bei hohem Wohlstand grassieren Verlustängste.

Das ist völlig paradox, aber wohl natürlich. Auch sind die Erwartungen hochgeschraubt. Verzögert sich das Uhrwerk um wenige Augenblicke, regt sich sofort Unmut. Da ist wohl jemand etwas grosszügig mit sich selbst gewesen. Die meisten opfern für dieses Uhrwerk ihre Freiheit oder das, was sie für Freiheit halten. Wehe denen, die es nicht tun.

All dies sieht man Schweizern an. Im Gegensatz zu Südländern fehlt ihnen die Anmut der Körper, die Eleganz in Gestik und Bewegung. Noch heute herrscht die verkniffe Hässlichkeit früherer Armut vor, als man grobe Stoffe trug und hart arbeitete und Suppen mit Fettaugen löffelte. Als man Kinder und Tiere mit Ruten auf Kopf und Hände schlug.

Da schafft auch eine Markenbrille keine sofortige Abhilfe. Auch rassige Frisuren nicht.

Und auch kein Feng Shui.