Selbstkritik ist in ihrem Anspruch eigentlich nicht einlösbar. Denn Kritik überhaupt setzt voraus, dass ich mich vom Sachverhalt unterscheide, den ich beurteile. Ich darf nicht darin verwickelt sein. Niemand aber tritt aus sich selbst heraus. Oder nur unter wenig alltäglichen Umständen.
Unlängst bekam ich die Gelegenheit, einer Liturgie beizuwohnen. Die Leute sangen, Glöckchen klingelten, Weihrauch verglühte. Sogar die Predigt erreichte mich, weil bündig gehalten und auf den Punkt gebracht. Auch ohne Glaube an Gott ist die besondere Funktion dieses Ortes leicht einzusehen: Das Nicht-Alltägliche wird genau deshalb in Szene gesetzt, damit Selbstkritik leichter fällt. Das Moralin dabei mögen viele abstossend finden. Hier geht es mir um die inszenierte Nachhilfe, die ich naturgemäss finde.
Je gegensätzlicher der Ort, desto eher kommen wir in die Lage, uns anders zu sehen, wenn wir an ihm teilnehmen. Und sei es nur, dass wir nach Stunden Brütens auf den Balkon hinaus treten. Manager hängen sich an Gummiseile. Und sie jagen ihre Leute Kletterwände hoch, damit sie auf andere Ideen kommen. Die so genannte Auszeit ist zu einer erzieherischen Massnahme geworden: Jugendliche auf hoher See, beim Ziegen melken auf der Alp. Wenn ein Kind mit Aspgerer in sich rotiert, wird empfohlen, mit ihm das Zimmer zu wechseln oder nach draussen zu gehen. So geht es uns Menschen überhaupt. Sind wir nicht alle Autisten bis zu einem gewissen Grad? Bücher, Theater, Filme bieten uns daher den nötigen Schutzraum, damit wir uns selbst in aller Ruhe betrachten können. Auch bleiben wir so vor klinischer Begutachtung bewahrt.
Gute Freundschaft zeigt sich darin, dass man sich gegenseitig zu Selbstkritik verhilft. Einsame Menschen verhalten sich vielleicht deshalb schrullig, weil ihnen im fehlenden Umgang mit anderen auch der lebendige Umgang mit sich selbst abhandengekommen ist.
Sie hocken in einem Käfig wie Kanarienvögel ohne Spiegel.
Im Zuge der Bologna-Reform ist Reflexion über das eigene Tun so wichtig geworden, dass in Formularen eigens ein Abschnitt dafür gelayoutet wird. Bleibt er leer, erfolgt automatisch ein bestimmter Abzug von Punkten. Also wird er mit floskelhaften Aussagen angefüllt, die meistens ungelesen bleiben. Selbstkritik geht so bankrott.
Auch wenn diese Übung gehaltvoll abhinge, besteht das Problem, dass Bologna die Refkexion verlangt, ohne einen gegensätzlichen Ort zur Nachhilfe anzubieten. Dafür reichen Nischen mit Kissen im Apple-Zuschnitt nicht aus. Bei dieser veramteten Selbstkritik bleibt man im Sachverhalt verstrickt.
Der Glaube an den Kopfmenschen, der sich selbst mühelos beurteilt, als zöge er sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf, besteht seit den Reformatoren ungebrochen fort. Zugleich werden natürliche Gefühlsmenschen umso mehr brüskiert und verachtet. Wir sind eben nicht nur Kopfmenschen.
Auch Aufklärer folgten diesem Glauben. Revolutionäre jeder Couleur setzen, wenn sie zur Verbesserung einer ganzen Gesellschaft antreten, den Kopfmenschen voraus und bekämpfen Gefühlsmenschen als Gegner ihrer Sache oder halten sie in Schach.
So ist es wenig verwunderlich, dass man sie irgendwann um eben diesen Kopf verkürzt.
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