Eine alte Dame wirft Stöckchen, ihr Zwergpudel holt und bringt. Das wäre nichts Besonderes, wenn das Tier dabei nicht angeleint bliebe. Die Rollleine erlaubt diesen seltsamen Auslauf.

An dieser Szenerie sehe ich mich kaum satt: Die schwerfällige Herrin, der Hund, der vor- und zurücktollt, dazwischen das zittrige Band, das immer wieder ausgezogen und eingeholt wird. Die Situation ist abgerundet und schlüssig, eigentlich optimal. Aber man ist versucht, das Tier zu bemitleiden. Es lebt einen Abklatsch seiner Freiheit in unnatürlicher Beschränkung.

Ein Stück Leben wird eingespannt. Das kennen wir zur Genüge an uns selbst.

Das Tier jedoch scheint seine Freiheit ganz zu erleben, auch wenn es beim Zug der Rollleine ins Keuchen kommt. Wir Menschen würden diese Lage fortwährend mit besseren Umständen vergleichen. Das bisschen Freiheit, die man uns liesse, würden wir trotzig verweigern oder sie früher oder später gebrochen hinnehmen.

Wir stellen Vergleiche an, eine Art Erinnerung, und wägen ab. Damit hören wir nie auf. So ist unsere Natur. Das Tier stellt nur im Augenblick Vergleiche an, wenn der nötige Reiz in seine Gegenwart tritt. Daher hält es Schmerzen aus, die uns um den Verstand brächten. Die Härte des Leidens, das wir empfinden, liegt auch am Wert, den wir ihm beimessen. Und dieser Wert geht aus stetigem Vergleichen und Abwägen hervor. Schmerzforschung müsste dringend auch geisteswissenschaftlich ausgerichtet sein. Eine Hermeneutik des Leidens wäre geboten.

Vielleicht könnten wir von diesem Zwergpudel lernen, dass sich Freiheit trotz jeder Beschränkung als Ganze erleben lässt. Das wäre sogar sachlich zutreffend, denn völlig ohne Beschränkung ist Freiheit für uns niemals zu haben. Wir geben uns durchwegs mit einem gewissen Grad an Beschränkung zufrieden.

Von Tieren lernen. Ein schöner Gedanke. Warum nicht einmal umgekehrt, Tiere zeigen ja auch ungeahnte Fertigkeiten, wenn sie von uns lernen. Erst kürzlich stellte ich mich einer filmischen Aufnahme, wie ein Panther eine Gazelle reisst. Zu meinem Erstaunen zeigte das Raubtier keinerlei Aggression. Selbst dann, als es zum Biss ansetzte, blieb sein Ausdruck gelassen.

Aggression ist Verteidigung. Das lehren uns Tiere. Und die Neurobiologie liefert Belege dafür: Auch unter Menschen steht Gewalt im Dienste einer Verteidigung. Zwar nur aus Sicht des Täters, aber diese Sicht unterliegt uralter Ignoranz, wie leicht zu begreifen ist.

Ich mag es, Tieren in die Augen zu sehen. Dort findet sich der Gleichmut der Natur. Unsere Augen sind von feinsten Mimiken umspielt, die zu deuten uns von eben diesem natürlichen Gleichmut ablenkt, der wohl auch unserem Blick innewohnt.