Die Schweiz bildet keine natürliche Einheit. Mit der Neutralität gibt sie Antwort auf ihre Angst, dass sie auseinandergerissen wird. Diese Angst ist ein Nachhall aus ferner Zeit. Heute besteht kein sachlicher Grund mehr dazu. Das hat Folgen für das Verständnis von Neutralität. Wir müssen verschiedene Neutralitäten annehmen.
Schweizer haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Religion, keine gemeinsame Ethnie, keine gemeinsame Rasse, keine einheitliche Geografie. Das Land zerfällt in Regionen mit völlig verschiedenen Bedürfnissen. Burgunder, Allemannen und Langobarden mieden sich zur Zeit der Völkerwanderung oder bekämpften sich, kamen sie sich in die Quere. Als Schweizer garantierten sie zusammen eine schwierige Einheit, die Jahrhunderte benötigte, bis sie sich festigte. Schweizer als bewaffnete Bauern bedeuteten vielen eine Gotteslästerung. Ihre brutale Infanterie war sogar bei den Spaniern gefürchtet. Der geografische Raum bot den kinderreichen Familien zu wenig Platz. Also begab man sich in den militärischen Dienst europäischer Grossmächte. Die fränkischstämmigen Schweizer scharten sich hinter dem französischen König, die ehemaligen Allemannen unter den kaiserlichen Bannern des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Die Schweizer Reisläufer waren als grobschlächtig verschrien, aber auch als sonderbar. Nach dem Dienst feierten sie wie Ballermann unter Fremden, wobei sie Frauen vergewaltigten, bis sie zu spätester Stunde vor Heimweh heulend zusammenbrachen.
Dieses Söldnertum bereitete niemandem Schwierigkeiten, bis der Habsburger Kaiser Karl gegen König Franz Kriege führte. Nun standen sich die Schweizer als Feinde gegenüber. Die Spannung wirkte zurück in die Heimat, wo sie für Unfrieden sorgte. Von nun galt das Reislaufverbot, und das hat als Neutralität zur Wahrung der Einheit der Schweiz ausgereicht.
Neutralität macht Sinn von ihrem Ursprung her, sobald grossmächtige Nachbarn, von denen Schweizer abstammen, untereinander im Streit liegen.
Diese Art von Neutralität dürfte niemand bestritten haben. Sogar der Landesheilige Klaus von Flüe soll dazu angeregt haben. Nach Napoleon bestätigte die Europäische Union auf Stufe Hochadel die Neutralität der Schweiz, damit sie ein Bollwerk zwischen möglichen Todfeinden bilde, damit keiner sich ihrer bediene, seine Truppen aufzustocken, und damit ein fremdes Territorium zur Verfügung stand, auf dem sich notfalls Kriege ausfechten liessen. Hass infolge Ausbeutung würde dann von einem Volk ausgehen, das über keine ernsthafte Handhabe gegen die grossmächtigen Kriegsparteien verfügte. Eine sonderbare Neutralität also, von aussen bekräftigt und somit in gewissem Sinne auferlegt.
Diese Neutralität hat jedenfalls nichts gemein mit der ursprünglichen Variante.
Im ersten Weltkrieg rechnete der deutsche Kaiser selbstverständlich damit, dass Schweizer Truppen seinen Vorstoss nach Frankreich südlich flankierten. Warum sonst hätte er sie vor Ausbruch besuchen sollen? Die Schweizer blieben an der Grenze. Im Zweiten Weltkrieg war Neutralität ausgeschlossen. Das wirtschaftliche Auskommen mit Nazideutschland setzte sich in gegenseitiger Abhängigkeit fort. Steinkohle gegen Franken als Devise. Das lässt sich bei Bergier nachlesen. Und noch Vieles mehr, etwa dass die Nazis das Rot der Schweizer Flagge für den Hintergrund ihres Hakenkreuzes zu Friedenszeiten in der Schweiz einkauften. Dieser Handel steht neutralitätsrechtlich also nicht zur Debatte. Die Missachtung der Neutralität zeigte sich beispielhaft daran, dass die Schweizer zugunsten der Nazis in der Nacht ihre Fenster verdunkelten. Dadurch kam in meiner Nachbarschaft in Stein am Rhein eine ganze Familie ums Leben. Zwar blieb die Schweiz unbesetzt, wegen des Frankens als letzte freie Devise, aber auch wegen den geschützten Bankkonten eines nationalsozialistischen Mittelstandes. Im Kalten Krieg hatte ich als Rekrut während der Übungen mit «Russen» zu rechnen, nie mit «Amerikanern». Das stümperhafte Privatprojekt der Fichierung Schweizer Bürger sammelte einschlägige Informationen nur von Vertretern und Sympathisanten des linken Politspektrums. Zu Max Frisch soll es drei volle Bundesordner davon gegeben haben. Seine Antwort: Die Schweiz, ein verludeter Staat.
Von Neutralität keine Spur.
Neuerdings sind unsere Nachbarn geeint. Immerhin seit über sechzig Jahren, unter anderem militärisch in der NATO. Ein Krieg unter ihnen würde deren Auflösung voraussetzen, was völlig ausser Frage steht, da der Aggressioskrieg in der Ukraine sie zusätzlich eint, oder aber einen selbstmörderischen Austritt eines unserer Nachbarn aus diesem Bündnis. Und die Angst der Schweiz, innere Spannungen könnten zur Abspaltung gewisser Regionen führen, besteht zwar noch, aber sie hat jede sachliche Grundlage verloren. Einerseits garantiert eine der ersten Grundsätze der UNO die Wahrung bestehender Grenzen, andererseits sorgt das Ständemehr für Gerechtigkeit bei den Abstimmungen auf Bundesebene, wenn die Deutschschweiz die anderen pro Kopf überstimmt. Daraus folgt:
Die Neutralität, wie sie von ihrem Ursprung her gilt, hat in diesen Szenarien keine Funktion.
Nun hat sich die Sicherheitslage für Europa drastisch verändert. Den geeinten Nachbarn steht ein Feind gegenüber, der geopolitisch nicht nur die Schweiz mitbedroht, sondern auch Bündnisse mit globaler Wirkungsmacht sucht. Und offenbar auch findet, wie das soeben veranstaltete Treffen der Brics-Staaten es anzeigt. Diese Ausgangslage ist für die Neutralität eine völlig andere. Das zeigt sich hierzulande deutlich daran, dass die Neutralität in diesem Fall im Gegensatz zu früher keine bruchlose Zustimmung mehr geniesst. Diese Sachlage lässt sich im Rahmen eines Gedankenexperiments so überzeichnen, dass sogar die Unsinnigkeit der Neutralität klar wird. Angenommen nämlich die gesamte Weltbevölkerung würde von einer ausserirdischen Macht angegriffen. Wie sähe dann die Schweizer Neutralität gegenüber diesem Aggressor aus? Niemand würde sie verstehen. Stände die Neutralität in der Verfassung verbrieft, wären wir zu dieser Irrationalität gezwungen.
Warum halten wir an Neutralität fest? Warum sind Neutralitätsdebatten beinah mit einem Tabu belegt? Das liegt daran, dass sie eine völlig andere Funktion übernommen hat. Es gibt politische Kräfte, die das Vertrauen in die Schweiz als Willensnation verloren haben. Aus nachvollziehbaren Gründen, gewiss. Also sind sie umso mehr um Dinge besorgt, die wir ausserdem gemeinsam haben.
Eben die Neutralität. Oder den Willen dazu.
Neutralität ist für viele Schweizer identitätsstiftend geworden. So wird sie wie zu einem Monument in Granit gemeisselt, als stammte sie vom Gotthard ab, dem eigentlichen Gründungsgebiet der Schweiz. Bundesbrief und Rütli beginnen diese Entstehung nicht, sie markieren ihren Abschluss.
Neutralität als Identität: Es klingt schon befremdlich, wenn ein Werkzeug flexibler Aussenpolitik eine gemeinsame Identität kitten soll.
Diese Überzeugung wirkt eher nervös, als sachlich vernünftig, eher angespannt, eher voll Misstrauen.
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