Selbständigkeit, Selbstgestaltung, Selbstorganisation. Weniger Einmischung, weniger Vorschrift. Ganz besonders in der Erziehung. Dieses Anliegen spricht für sich … selbst. Seine amtliche Durchsetzung lässt es allerdings verkommen. Und in der wissenschaftlichen Grundlage, dem dieses Anliegen beinah absolute Autorität verdankt, namentlich im Konzept der Autopoiese oder Selbstorganisation, steckt mehr Ideologie als Erfahrung. Schlimmer noch: Dieses Konzept sagt politisch viel aus, wissenschaftlich aber nichts. Oder nicht viel.

In der Bildung bedeutet heute Selbständigkeit, dass man Heranwachsende mit Arbeitsaufträgen sich selbst überlässt. Von Ämtern abgesegnet geben Lehrkräfte die Verantwortung an Unreife ab, in deren Schädel ein Gehirn gärt und kocht. Die Aufträge sind in allen Einzelheiten ausformuliert, sprich trickreich operationalisiert. Etwa so: Gib genau drei mögliche Antworten in höchstens zwei Sätzen auf Frage 1 bis 5 und stelle deine Antworten in einer halben Stunde mit Hilfe von Notizen der Klasse vor. Recherchiere dabei im Internet und kopiere pro Frage mindestens 2 Links auf die Geografie-Lernplattform sowie deine handschriftlichen Notizen in Form von Scans im JPG-Format. Fraglich, was das mit Selbständigkeit zu tun haben soll. Heranwachsende üben sich eher darin, wie man hektisch Listen abarbeitet, damit noch etwas Zeit bleibt für sich selbst. Mit Betonung auf: sich selbst. Und diese üble Praxis der Scheinselbständigkeit bereitet leider zielsicher auf die heutige Berufswelt vor. Selbständigkeit à la Montessori zum Beispiel klingt anders. Da sagt das Kind: “Zeig mir, wie ich Brüche erweitere und kürze. Die anderen können das schon.” Dann nach ein, zwei Wochen heisst es: “Bin jetzt bereit. Prüfe mich.” So tönt Selbständigkeit.

Ich werde einfach den Eindruck nicht los, dass meine Generation, aber auch die Bildungsverantwortlichen der vergangenen Jahrzehnte an Selbstkonzepten dieser Art einen besonderen Narren gefressen haben. Wie immer aus gewichtigen Gründen, und das meine ich keineswegs bissig. Die Frage ist nur, wie dogmatisch daran festgehalten wird. Die Verhältnisse verändern sich laufend, was andere Dinge ans Tageslicht kehrt, die ebenfalls  bedeutsam sind.

Der groben Tendenz nach sind wir überzeugte Konstruktivisten: Demnach gibt es keine Objektivität, sondern nur Interpretation. Und wir interpretieren die Welt verschieden. Dabei gehört es sich, dass alle verantworten, was sie mit ihrer Interpretation anstellen. An Selbstgestaltung knüpft sich also Selbstverantwortung wie von allein. Kant wäre entzückt, dass sich seine Philosophie mit einem Schlag erfüllt. Sicher wäre er auch skeptisch. Der Umstand jedoch, dass man in Bildung und Berufswelt nur noch Listen mit messbaren Qualitätsmerkmalen abarbeitet, dürfte ihn mit Grauen erfüllen.

Denn Kritikfähigkeit wird so beinah abgewürgt.

Zur Zeit herrscht unter Generationen ein Missverständnis. Früher hat man viel Einmischung erlitten. Man hat die rüden Anweisungen noch im Ohr: Steh gerade! Rede ordentlich, sonst machst du der Familie Schande! Es wird nicht debattiert! Knöpfe den Hemdkragen zu. Zwar bekamen wir im Vergleich zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts einen Paternalismus zu spüren, der bereits weichgespült war. Aber die Empfindlichkeiten nehmen zu. Wer tatkräftig für Wohlstand sorgt, entlastet von den Mühen des Alltags. Kein Wunder, wenn die Leute zunehmend mimosenhafter werden und dabei immer höhere Ansprüche stellen. Wer zu viel Einmischung verarbeitet, gönnt dem eigenen Kind vielleicht mehr Freiraum. Gerade heutige Väter sind bekannt dafür, dass sie sich grosszügig zurückziehen. Sie erachten das als besonders pädagogisch, da sie das Kind vor ihrer rüden Einmischung verschonen. Ob sie dabei in erster Linie ihre eigene Selbstverwirklichung im Auge haben, können nur sie selbst wissen. Jedenfalls lässt es sich ihnen leicht unterstellen. Dabei geschieht, wie so oft, nur ein Überausgleich. Dieser führt dazu, dass heutige Kinder sich im Stich gelassen fühlen, sich zurückgewiesen und herabgewürdigt vorkommen, da eine Beziehung zu ihnen offensichtlich uninteressant ist. Das Anliegen, dem Kind einen Freiraum zu überlassen, den man selbst so begehrt hätte, nimmt etwas in dieser Welt ernst, aber es ist genauso blind. Pädagogen der Scheinselbständigkeit erinnern sich vielleicht genauso an die Not übermässiger Einmischung, wie auch an den jugendlichen Drang, die Dinge endlich selbst in die Hand zu nehmen. Meiner Erfahrung nach meinen sie, alle Kinder hätten diesen Drang von Natur aus. Und jede Einmischung entfremdet sie davon. Also ist Selbständigkeit ein gebotenes Geschenk an ihre Natürlichkeit.

Dabei übersehen sie die Möglichkeit, dass der Drang nach Selbständigkeit ausgerechnet von übermässiger Einmischung geweckt sein könnte.

Dass er ohne Einmischung nicht zu haben ist.

Jedenfalls nicht in dieser Ausprägung, wie ihn die Praxis der Scheinselbständigkeit einfach als gegeben voraussetzt. Wer diese Praxis anzweifelt, bekommt Wissenschaft als Autorität zu spüren. An pädagogischen Hochschulen ist, wenn der unbedingte Wert von Selbständigkeit gelehrt wird, oft und gerne von der Autopoiesis die Rede. Ein Fachbegriff, der Selbstgestaltung meint und zur Systemtheorie Luhmanns in ihrer späteren Ausführung gehört. Tatsächlich stammt er aus der Biologie. Denn die ersten Konstruktivisten waren Naturwissenschaftler. In diesem Fall Maturana und Varela. Die Autoren verdeutlichen, was Autopoiese sein soll, an folgendem Beispiel: Ein Kleinsttier mit Geissel, ein Protozoon, stösst an ein Hindernis. Die Geissel biegt sich, sodass an seiner Wurzel Veränderungen erfolgen. Diese Veränderungen beeinflussen das Zyptoplasma derart, dass die Geissel gekippt wird. Dadurch schlägt das Tierchen eine andere Richtung ein und schwimmt um das Hindernis herum. Bei diesem Vorgang wird Selbstorganisation oder eben Autopoiese festgestellt. Der Grund: Die chemischen Ereignisse, die im Tierchen geschehen, überwiegen immens den einmaligen Anstoss, der von aussen kommt. Diese zahlenmässige Überlegenheit soll den Fachbegriff rechtfertigen. Auffallend ist, dass es viele Biologen gibt, die davon keine Notiz nehmen. Die zahllosen Mechanismen rechtfertigen für sie gewiss, dass man von Organisation redet. Damit wäre aber nichts Neues erbracht. Für sie besteht hingegen kein zwingender Grund, dass man wegen dieser zahlenmässigen Überlegenheit die Vorsilbe ‚Selbst’- oder eben ‘Auto-‘ in die Lesart einführt. Es gibt keinen empirischen Anlass für diese Einführung. Denn was soll daran ‘selbst-‘ sein, wenn man bedenkt, dass bei der Entwicklung jedes natürlichen Organismus’ die Umwelt zigfach in Form der Auslese mitbestimmt, wie seine Organisation beschaffen ist. Daher besteht Grund zu der Annahme, dass die Einführung der Vorsilbe ‘Auto-‘ aussertheoretisch veranlasst ist, sprich aus politischen Gründen.

Offenbar sind die Gründe, die für dieses Konzept sprechen, ausserhalb der Wissenschaft zu suchen. Das Anliegen dürfte politisch sein. Vielleicht muss man es fast als ein Beleg dafür erachten, dass das Konzept der Autopoiese besonders in den Sozialwissenschaften Anklang fand. Unter Konstruktivisten geniesst es eine besondere Aura.

Die wissenschaftliche Leere im Begriff der Autopoiese lässt sich auch mit folgenden Gedanken andeuten: Führe ich mir den blauen Planeten Erde vor Augen, wie er über dem Horizont des Mondes aufgeht, so können wir darauf deuten und sagen: Alles Leben dort geschieht aus Autopoiese. Es gibt da nichts, das von aussen eingreift. Daher ist alles Lebendige Selbstorganisation, Selbstbestimmung, Selbstgestaltung. Auf dieses Begriffskonstrukt kann man ebenso gut verzichten. Daher gilt:

Selbst ist das Leben. Schon immer.