Vor allem Religiöse sind um die Unabhängigkeit des Geistes besorgt. Sie erhoffen sich davon ein Weiterleben nach dem Tod. Fleischliches ist ihnen daher zu minderwertig, überhaupt alles Materielle. Also meiden sie auch die Wissenschaft, die auf Messbarkeit und damit auf Körperlichkeit setzt. Zwar ist die Wissenschaft ein Verein mit harten Statuten, doch das Verhältnis zu ihr sollte sich ändern. Denn mittlerweile bietet sie Angelpunkte, die Argumente für die Selbständigkeit des Geistes stützen könnten. Der Geist sei willig, das Fleisch schwach. Also leicht verführbar. So galt es über Jahrhunderte in Predigten, in Gebetszirkeln, in Gewissensprüfungen unter vier Augen. Mittlerweile habe ich den gegenteiligen Eindruck: Die Verführbarkeit des Fleisches deutet auf einen unbändigen Willen nach Fortbestand über sich selbst hinaus. Projekte reiner Vernunft hingegen versumpfen gerne kläglich. Oder sie benötigen viel mehr Zeit, mit wiederholten Rückschlägen, während das Fleisch innert Augenblicken seinen Willen vollzieht. Nicht erst seit Descartes erachten wir im Christentum Geist und Fleisch als zwei voneinander strikt getrennte Angelegenheiten: Res cogitans, Res extensa. Eine Sichtweise, die die Sorge zusätzlich anfeuert, das Fleisch könnte den Geist beherrschen. Umgekehrt bespricht jede Ethik seither Möglichkeiten, wie man Belange des Fleisches in den Griff bekommt. Die Wissenschaft würde sich sehr wohl mit dem Geist beschäftigen, wenn er messbar wäre. Immerhin gibt es die Kognitionswissenschaft, die Bewusstseinsforschung. Früher gab es die transpersonale Psychologie. Aber alle diese Disziplinen, so vermute ich, befolgen das Ausschlussverfahren, bis eine Nullstelle übrig bleibt, eine Lücke in der Argumentation, die sich dann nur mit so etwas wie Geist schliessen lässt. Messbarkeit setzt Materie voraus, auf die die Mechanik jedes Messgerätes zugreift. Daher lässt die Wissenschaft, zumindest die Naturwissenschaft, die seit Kurzem beispielhaft gilt, Geist als Gegenstand aus.
Die Relativitätstheorie hingegen kommt neuerdings zu einer eher einheitlichen Sichtweise. Demnach versteht sich Fleisch, sprich Materie als gebremstes Licht. Als Energie, die entschleunigt wird und verklumpt. Geist wird nicht eigens thematisiert. Immerhin lässt sich sagen, dass keine Gehirnfunktion ohne Energie abgeht. Mehr noch: Das Gehirn produziert Energie. Und zwar gewaltig viel im Verhältnis. Aber ob Energie mit Geist gleichzusetzen wäre, dürfte zweifelhaft sein. Immerhin stellen Physiker klar, sie könnten exakt angeben, wie sich Energie verhält, wie wir sie also nutzen können. Aber sie seien ausserstande, zu erklären, was sie sei.
Die Quantenphysik wiederum stellt klar, dass die messende Beobachtung das Verhalten der Materie, hier der Kleinstteilchen beeinflusst. Misst man den Impuls eines Teilchens, verändert sich sein Standort und umgekehrt. Im mesokosmischen Bereich wäre das nicht der Fall. Ein Tisch verändert sich nicht, wenn ich seinen Standort prüfe. Messung bedeutet Beobachtung. Beobachtung wiederum yverweist auf Bewusstsein. Letztlich ist es das Bewusstsein, das die Beobachtung, sprich die Messung organisiert und so die Materie beeinflusst.
Dazu fällt mir ein Beispiel ein, das völlig entfernt scheint. Dennoch passt es hierher: Während des Liebesspiels wurde ich aufgefordert, Aug in Auge mit unseren Blicken zärtlich zu verkehren. Zuerst ging ich aus blosser Zuneigung darauf ein, schliesslich konnte ich gar nicht aufhören damit. Gegen Ende fühlte ich eine warme, wohlige Müdigkeit in meinen Augen. Das zeigte sich daran, dass ich sie andauernd ausrieb.
Ein Bewusstsein hat Materie durch Beobachtung beeinflusst. In diesem Fall zwei Bewusstseine, und das dürfte sich wechselseitig verstärkt haben.
Unser Bewusstsein bringt die Begriffssprache hervor. Auch sie beeinflusst unsere Körperlichkeit. Als man mir eröffnete, eine Stelle in der geschwollenen Prostata sei sehr wahrscheinlich Krebs, befiel mich von einer Sekunde auf die andere ein Mundgeruch der übelsten Art. Ebenso dürften schon manche darüber gerätselt haben, wie es kommt, dass die Darmperistaltik sich verselbständigt, sobald der Schriftzug “WC” sichtbar wird. Die Sache läuft über unser Bewusstsein, das steht fest.
Weiter heisst es in neuster Wissenschaft, der Körper sei ein System, durch das Materie fliesse. Daraus folgt, dass man System nicht mit Materie gleichsetzen kann. Dann wäre der Körper Materie, durch die Materie fliesst. Eine völlig nutzlose Erkenntnis. Denn die gleiche Bestimmung passte genauso auf eine Kläranlage oder auf eine Autobahnraststätte.
Was hier mit System benannt wird, kann also keine Materie sein.
Was also ist es dann? Etwas, das die Materie ordnet, was immer das sein mag. Man könnte von strukturbildenden Kräften reden. Oder eben von Geist. Aber das wäre einfach eine Bezeichnung, die darauf Antwort gibt. Etwa in der Art, wie wenn wir sagen, es sei der Instinkt, der eine frisch geschlüpfte Eidechse ohne Vorbild und Erfahrung vor Gefahr fliehen lässt. Die Bezeichnung, das Wort, der Name dient als Deckel, der die Lücke verschliesst.
Die Gehirnforschung hat viel dazu beigetragen, dass die Lücke immer enger wird. Geschlossen ist sie aber noch nicht. Unserem Verhalten und unseren Gefühlen dabei, wenn uns Angst befällt und wir die Flucht ergreifen, entspricht ein synaptisches Geschehen mit einem bestimmten komplexen Muster. Das Gleiche geschieht, wenn wir uns einer Sache zuwenden, die uns Lust bereitet. Auch hier kommt es zu synaptischen Ereignissen, deren Muster ebenso komplex ausfällt. Die Antwort, die Unterschiede im Muster führten dazu, dass wir uns derart gegenteilig verhalten, lässt uns unbefriedigt zurück. Die exakte Beschreibung körperlicher Verhältnisse und die existenzielle Verfassung, die wir dabei intim erfahren, fallen völlig auseinander, sodass es uns schwerfällt, sie als Erklärung für unser Erleben anzuerkennen. Die Sachlage lädt dazu ein, den Geist als Beweggrund einzufügen, der diesen Unterschied ausmacht.
Auch bringt uns die Wissenschaft bei, dass Körperzellen regelmässig absterben. Die Rede ist von einer Lebenszeit von rund sieben Jahren. Alles Geistige, so zum Beispiel Erinnerungen, benötigen Materie als Träger. Ein Umstand, der durch Hirnschädigungen belegt wird. Die Zelltode sind im Organ aufeinander abgestimmt, ebenso ihr Wachstum. Sofern Zellen ein Eigenleben haben, und Biologen reden tatsächlich davon, dann passen sie sich diesen Rhythmen von Wachstum und Zelltod genauso an, etwa so, wie wir uns den Bedürfnissen eines Gemeinwesens unterordnen, dem wir angehören. Laufen diese Rhythmen aus dem Ruder, liegt Krebs vor. Meine Körperzellen sind also in meinem bisherigen Leben mindestens sieben Mal abgestorben. Sie wurden ersetzt. Und zwar alle. Das heisst, mein Körper ist längst nicht mehr der gleiche, etwa wie damals, als ich kindlich neugierig Kakteen anfasste, in der Annahme, die Stacheln seien flauschig, und in Geschrei ausbrach. Meine Mutter führte mich an einen Teich in der Nähe und wusch das Übel sorgfältig aus meinem Patschhändchen. Diese Erinnerung besteht seit Jahrzehnten ungetrübt fort. Dabei spielt keine Rolle, ob sie wirklich zutrifft oder nicht. Hauptsache sie bleibt gleich. Sie hat die vielen Zelltode überlebt. Es kam auch nie vor, dass diese Erinnerung kurzfristig verpixelt wäre, wie man es von schlechten Kopien her kennt, da ein paar Zellen gerade am Absterben wären.
Und sollte ich, wenn ich sterbe, den berüchtigten Film meines Lebens ablaufen sehen, werden dieser Bilder sieben oder mehr Körper überlebt haben.
So etwas nennt man halt Geist.
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