Sehr wahrscheinlich steht mir in wenigen Tagen eine Krebsdiagnose bevor.

Als ich diese bedeutungsschwere Begriffssprache aus dem Mund eines Urologen vernahm, in meinem Fortpflanzungsapparat stecke sehr wahrscheinlich ein Karzinom, das genauer zu untersuchen sei, befiel mich jäh ein miserabler Mundgeruch. Keine Ahnung, wie ein blosses Wort dazu fähig ist, dass es in Schleimhäuten sofort schwefligen Eiweissgeschmack freisetzt. Eigentlich ein Stück Parapsychologie im Behandlungszimmer eines Urologen. Noch im Treppenhaus jedoch erfasste mich eine unbändige Lust auf Leben. Und ich dachte: Ich darf gehen! Zu meinem Entsetzen der Menschen wegen, mit denen ich lebe, denn um keinen Preis würde ich mich schon jetzt von ihnen verabschieden wollen. Aber soll ich weiterhin Tage auf Tage häufen? Jahre auf Jahre? Ein längeres Leben führen, statt ein kurzes, dafür vollblütiges, voller leidenschaftlicher Bewusstheit angesichts seiner erwiesenen Kürze?

Ein längeres Leben bedeutet keineswegs wie von selbst ein gutes Leben. Oder: Die Güte eines Lebens hängt nicht an seiner Dauer.

Die kleinkarierten Nützlichkeitserwägungen, die uns alltäglich beschäftigen, finde ich zunehmend belastend, wie mir klar wurde, auch diese dauernde Suche nach guten Gefühlen, so nach Lust und Anerkennung. In regelmässigen Abständen befällt uns Postmoderne der Zweifel, ob wir auch wirklich das richtige Leben führen. Dazu kommt immer wieder diese Trauer nach Enttäuschungen, die uns ins Grübeln bringen, obgleich jede Enttäuschung bedeutet, dass wir ein Stück weit mehr zur Welt kommen. Und dann dieser Stoffwechsel, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Ich könnte mir vorstellen, dass einem im Greisenalter sogar das Essen verleidet. Sollte der Bescheid den Krebs bestätigen, dann begehre ich diese Achilles-Situation, die der Altphilologe Jonas Grethlein am eigenen Leib erfuhr und verarbeitete: Der Halbgott Achill zieht ein kurzes ruhmreiches Leben einem langen vor, das er namenlos auf irgendwelchen Feldern zubringen würde. Sein Wissen darum, dass er in Troja fällt, lässt ihn mehrfach über sich selbst hinauswachsen. Ruhm braucht es keinen in meinem Fall, dafür aber die Intensität an Bewusstheit im Verlaufe eines kurzen Lebens, mit der man selbst die Götter neidisch macht.

Denn wer unsterblich ist, der kennt keine Ekstase, keine Ergriffenheit, keine Erleuchtung. Wie auch? Es geht ja nie um etwas.

Nach Heidegger erfassen wir überhaupt etwas nur als sinnvoll dank dessen, dass wir um die Begrenztheit unseres Lebens wissen. Vielleicht würde mir die Trauer meiner Nächsten um mein Ableben am meisten Mühe bereiten. Es könnte sein, dass ich ihr Leid abweisen müsste, mit der Begründung, sie prellten mich um eine Erfahrung, die tiefgreifend ist. Aber das denkt sich, sagt sich leicht, solange der Ernstfall ausbleibt. Dennoch: Falls der Befund anders lauten wird, also auf Null Krebs, dann komme ich doch nicht umhin, dass ich wie alle irgendwann mit der Auflösung meines Ich zu rechnen haben werde. Aber auch hier hege ich eine Unbekümmertheit, die mich selbst stutzig macht. Ich kann winseln, wenn es soweit ist, das ist mir klar. Dennoch hat es mich, soweit ich weiss, Milliarden von Jahren nicht gegeben. Und das war nie ein Problem gewesen. Warum sollte es auf einmal Schwierigkeiten bereiten, wenn ich wieder verlösche?

Die Nicht-Existenz als idealer Zustand.

Und sollte mein Ich einfach so fortbestehen, so bleibt es doch für uns unbegreiflich, dass es etwas ohne Anfang und Ende geben soll. Buddhisten, auch Hindus setzen das Ich mit dem Ego gleich. Sie erklären es als Täuschung wie vieles andere, das uns so unverschämt beschäftigt. Das eigentliche Selbst hingegen gilt als wesensgleich mit dem Weltselbst. Alles Persönliche, Individuelle wird da sozusagen auf einen Nenner gebracht. Dieses Selbst als Weltselbst hat mit meinem jetzigen Ich, um das ich so besorgt bin, wohl wenig gemein. Im Übrigen hört sich dieses Konzept für uns Europäer doch eher fremdartig an. Wir erfahren unser Ich als Ganzes. Daher reden wir vom Individuum, dem Unteilbaren. Erinnerungen bis in die frühe Kindheit überleben die mehrfache Erneuerung des Körpers. Das klingt vielversprechend, wenn es um ein Fortbestehen nach dem Tod gehen soll. Leider bereitet mir die Vorstellung der Unendlichkeit eigentliches Grauen, während mich Anfang und Ende der Dinge eher anheimeln, so unvermeidlich sie auch sein mögen. Zudem weiss die Wissenschaft immer weniger mit dem Begriff des Individuums anzufangen. Vor allem die Biologie stellt in Frage, ob es etwas derart klar begrenztes überhaupt gibt. Besonders dann, wenn sie Symbiosen untersucht, von denen es mehr gibt als zunächst angenommen. Algen, Flechten und Pilze verbinden sich beim kleinsten Anlass zu einer Einheit mit gegenseitiger Indienstnahme. Früher hat man da erst zwei Lebensformen ausgemacht, die angeblich im kolonialen Verhältnis von Herr und Sklave zueinander gestanden haben sollen. Neuerdings ist sogar von einem symbiotischen Chor von Individuen die Rede.
[138].

Natürliche Arten lassen sich oft nur unscharf voneinander trennen. Ebenso gibt es geografische Bereiche, bei denen unentschieden bleibt, ob es sich um Land oder um ein Gewässer handelt. Was wir in Lexikas über Arten lesen, bedeutet eine Idealisierung. Der Stammbaum des Lebens tritt uns ebenso bereinigt entgegen. Eigentlich müssten seine Äste hervorschiessen, wie Bridle es anhand von Ford Doolittle es beschreibt [p 141]. Vielfach verschmelzen die Äste miteinander und trennen sich wieder, bilden Kontenpunkte, stechen wie durch Löcher hindurch. Ein Gestrüpp von Stammbaum, unhandlich für einen zweckmässigen Weltbezug. Das Leben, so Bridle, erscheine neugierig suchend, vernetzt, wuchernd und besonders umfassend. Auch sind wir genomische Chimären: Die Hälfte unseres Erbgutes stammt von anderen Organismen ab. Sie wurden durch Viren übertragen. Die Rede ist von Geisterpopulationen, die uns mitbestimmen. Was ich als mein Ich anspreche, bedeutet ein Produkt mehrerer Vorfahren, die miteinander verflochten sind. Wir seien keine Individuen, sondern wandelnde Assemblagen, also krawallige Gemeinschaften von Wesen aus mehreren Arten und Körpern, innerhalb und ausserhalb unserer Zellen. Das Leben individuiert und verteilt sich bestmöglich in planetarischen Sphären, damit es tödlichen Gefahren verschiedenster Art entgeht. Umso mehr verlangt es die Verbindung unter sich selbst zu neuen Einheiten.

Leben individuiert und transzendiert.

Als Individuum begeistert mich diese Transzendenz, und sollte sie auch voraussetzen, dass mein Ich in die Individuen zerfällt, die es ausmachen. Die Flechten hegen Algen und wir hegen Bakterien und jeder nährt den anderen. Das Leben kennt die Zusammenarbeit genauso wie den Wettbewerb. Ob Egoismus oder Altruismus läuft für das Leben auf dasselbe hinaus. Das ergibt mehrstimmige Symbiosen, die die klaren Grenzen unseres Ichs in Frage stellen. Das Individuum als eindeutig begrenzte Person scheint in erster Linie politische Bewandtnis zu haben, indem mit seiner Freiheit von anderen auch seine Haftbarkeit für andere gewährleistet wird.

Je länger, je deutlicher kommt mir das menschliche Ich als ein Trick des Lebens vor, dass es sich selbst bestmöglich in seiner Sorge um Wachstum und Fortbestand gewissermassen personifiziert und milliardenfach vervielfältigt. Todesangst, auch ernste Selbstbesinnung wirken sichernd und erhaltend. Das Stück Leben, das sie empfindet und seine Instinkte nach dem Richtmass dieser Angst absurren lässt und entsprechend seinen Verstand einsetzt, sichert unwillentlich auch das Leben als solches. Eben indem es sich bestmöglich für seinen eigenen Fortbestand abmüht. Sollte dies tatsächlich der Fall sein, dann muss mich mein Ich nicht weiter bekümmern. Auch die Drohung eines Jüngsten Gerichts beschreibt gewiss keine jenseitige Tatsache, die uns notwendig erwartet. Vielmehr steht sie für den Egoismus einer Gruppe wie jede Moral, in der die Sorge herrscht, wie man es erreicht, dass Menschen zu gemeinsamem Überleben zusammenbleiben und Mass halten. Auch die Natur unternimmt diverse Anstrengungen in diese Richtung. Also auch wir. Liebe und Treue sind auch so ein sonderbarer Klebstoff, mit dem das Leben die Vereinzelung überwindet.

Mein Ich jedenfalls scheint aus einer Bündelung von energetischen Regungen hervorzugehen, wie ich es unbeholfen beschreibe, die auch genauso gut auseinanderfällt und sich anders bindet.

Leben als verklumpte Energie.

Und für diese Energie gilt wie für alles Energetische der Erhaltungssatz. Demnach wird Energie nie verbraucht, sondern nur umgewandelt. Sollte Leben eine  Eigenschaft der Materie sein, dann sinke ich wohl dahin zurück. Völlig aufgelöst, auseinandergelegt, völlig entwirrt. Also völlig erlöst. Eine kleine Milchstrasse, die sprühend aufleuchtet und verlischt. Denn das einzige Ich, wenn überhaupt, ist das Leben also solches. Daher ist nichts Lebendiges mir fremd.

Der Bescheid holt mich ein. Von den zwölf Proben, gestanzt aus dem blutigen Fleisch meiner Prostata, die da den Samen einnässt, damit er den Weg zur Befruchtung bewältigt, und die sehr wahrscheinlich, wie es hiess, krebsig sein soll, bestätigen allesamt tumorfreies Gewebe.

Nun ging dieser Kelch an mir vorüber. Auch der Siegespokal eines Achill.

Wobei mir klar wird, dass die Achilles-Situation streng genommen überhaupt für Menschen gilt. Zu jeder Zeit ihres Lebens. Und so bin ich unverhofft glücklich darüber, dass ich doch in völlig normaler Weise einfach nur froh über diesen Bescheid bin.