Alle reden vom Mythos Gotthard. Ich suchte danach und bekam eine Psychotherapie verpasst. Meistens lebe ich sonst wie aus dem Liegestuhl. Und gerne stecke ich meine Nase in Chroniken. Nun aber hat mir die Geschichte einen Bauchschlag versetzt. Der Gotthard belehrte mich über einen Grad an Naturgewalt, der mir bisher unbekannt geblieben ist. Und er pflanzte mir dank zweier peinlicher Missgeschicke die nötige Angst davor ein.
Vom Mythos Gotthard ist jeweils im Zusammenhang mit Goethe die Rede. Dreimal hat er das Massiv bestiegen, einmal von Genf her. Mythos als Ort bedeutet, dass hier Welten sich verschränken, die sonst strikt voneinander entfernt liegen. Der Idealtypus ist vielleicht Moses auf dem Berg Sinai. Goethe liebte am Granit, dass mit ihm das Unterste der Erdkruste bis nach zuoberst gekehrt war. Kristallines, magmatisches Tiefengestein erhebt sich zum Dach Europas. Wie oben, so unten, lautet ein hermeneutisches Gesetz. Tiefstes und Höchstes fallen zusammen, kommen sich nahe. Auch die vier Quellen, die im Gotthard entspringen und in drei Meere münden, rücken Ferne in bergreifbare Nähe: Der Golf von Lion, die Adria, die Nordsee. Angeblich kommen hier auch die wichtigsten Alpenkämme zusammen, und die südlichen und nördlichen Luftmassen stossen aneinander. Dann auch geografisch die Schwelle zum Süden, bei der Goethe beschloss, nicht weiter zu gehen. Hier kam er zum ersten Mal in Berührung mit Arkadien. Seine bekannte Bleistiftzeichnung, die die Südsicht vom Gotthard zeigt, der «Scheideblick nach Süden» steht für den Moment dieses Entschlusses. Auch seine Metaphysik der Wolken, wie in den ersten Versen seiner «Zueignung» von 1784 beschrieben, kommt mir in den Sinn. Wolken, die auf dem Gotthard bei rapidem Wetterwechsel zum Greifen nahe sind.
Beim Aufstieg durch die Schöllenen packte mich diese mythische Aufregung, dass mir eine Abgründigkeit nahe kam, die mich wie ein Wohnzimmer umschloss: Granitplatten, noch schwarz leuchtend von einem Regenschauer, sie wirkten wie hochgestellt, die mich fast intim umgaben. Wie zu Klippen gefügt. Dabei dröhnte Holsts Vertonung des Planeten Mars in meinen Kopfhörern. Einer Klippe bleibt man einfach fern, wenn sie einen verunsichert. Hier fühlte sich diese Naturgewalt unausweichlich an.
Nicht nur Goethe, auch H. R. Giger fiel mir ein mit seinem «Mystery of San Gottardo». Die Galerien der Autostrassen, die sich zu Füssen der Granitmonumente schlängelten, erinnerten an die seriell sortierten Menschenwesen Gigers. Etwa die Föten, die als Munition in Magazin und Lauf aufgereiht sind, ebenso und beinah wörtlich zitiert, wenn wir Besucher später in der Festung Sasso in einem Lift in Einzelzellen aufgereiht standen, der uns wie früher die Munition durch einen Schacht zu den Geschützen hochbrachte, alle hinter durchsichtigem Plastikschutz aus Zeiten von Corona. So fiel mir auf, wie gerichtet die Verhältnisse sind. Geordnet und eingepasst. Eigentlich ein Normalzustand, der überall anzutreffen ist und daher kaum auffällt. Sortiert und gerichtet: Die Menschen in den Autos in den Galerien. Die Zünder in der Munition in den Geschützen. Das Panzerfleisch in Büchsen portioniert und verpackt in Lagertunnels der Festung. Die Soldaten in den Tunnels und auf den Treppen, die kein Ende nehmen. Wie man sich an die Strapaze gewöhnen könne, diese Treppen täglich hochzusteigen, oder immer wieder im Granit herum zu klettern, um die Geschützschlitze von Schnee zu befreien, frage ich den Schaffner des Liftes. Das sei sehr schnell gegangen, meinte er.
Wenn alles um uns gerichtet ist, wenn alles uns ausrichtet, dann bleibt uns nur die Flucht nach vorn.
Wie ein Geschoss.
Auch Gigers Menschenwesen sind ausgerichtet und eingebunden in surreal industrielle Zusammenhänge. Aber sie wirken berauscht, entrückt.
Selbstausrichtung. Das erwartet die Gruppe, das erwartet die Moderne von uns allen. Egal, wie leidvoll diese Selbstausrichtung abgeht. Ein Befehl. Eine Ausrichtung, in die sich alle fügen. Eine Dokumentation in der Festung zeigt eine Gruppe Artilleristen bei der Übung. Alles verlangt Präzision. Jeder Arbeitsschritt wird geprüft wie das Einstellen der Tempierung. Oder einer manipuliert an der Spitze der Munition für das Geschütz, hält es dem Nächsten hin, der die Manipulation bestätigt. Redundanz wie im Operationssaal, wie bei der Feuerwehr im Einsatz. Die Feuerleitstelle rechnet, hantiert mit Dreieck und Zirkel, verständigt sich über Messdaten mit mehreren Kommastellen, die jedes Mal ihrerseits zu bestätigen sind. Azimut, Artilleriepromill. Beübt wird die Südseite des Gotthards, wo man im Zweiten Weltkrieg mit dem Aufmarsch italienischer Truppen rechnete. Ich äugte aus dem Schlitz des Geschütznests und überblickte den gewaltigen Zielbereich.
Nach der Festung durchstreifte ich das Gelände. Ich kam an Bunkern vorbei, an Schiessscharten, an verriegelten Eingängen, an Lüftungsrohren. Schliesslich setzte ich mich auf eine sonnengewärmte Granitplatte am Fuss eines der Windräder, die hier auf der Passhöhe aufgestellt worden waren. Ihre Ästhetik hatte mich schon immer in Bann gezogen, unabhängig der ökologischen Bedenken, die sie aufwerfen. Wie hätte Goethe sie beschrieben? Ich kam aus dem abgründigen Getöse der Schöllenen, stieg aus Tiefen aus Granit und mürbem Beton, und nun lauschte ich dem feinen Rauschen der Flügelschläge über mir. Das erinnerte mich an ein Zitat Franz Liszts. Der Gotthard, meinte Liszt, sei ein musikalisches Drama. Donnernde Töne und feinste Sphärenmusik wechselten sich ab.
Auch mein Blick ging nach Süden. Vom alten Hotel aus. Gegen drei Uhr früh wurde ich wach. Durchs Fenster sah ich die rot blinkenden Windräder, von Wolken umflort, sie umspielten sie, indem sie herabsanken und sich teilten und wieder hochquollen, genau wie es Goethe in seiner «Zueignung» beschrieben hat, und so das blinkende Licht wie in Watte hüllten, während die Flügel ungerührt und erhaben die dichte Nebelmasse pflügten. Halb verschlafen fasste ich den Entschluss, das Ganze aus der Nähe zu sehen. Goethe war dreimal hier, und wenn er schrieb, dass wir als Einzelne gerne verschwänden, um uns im Grenzenlosen wiederzufinden, damit die Weltseele uns durchdringt, dann fand ich hier und jetzt die nötigen Umstände dazu verwirklicht. Ich sah mich im Begriff, den Mythos Gotthard zu knacken. Also schnürte ich die Wanderschuhe, warf mir bloss eine Jacke über, und ich verliess das Albergo durch die Hintertür wie angewiesen.
Allerdings ohne Schlüssel. Ich hatte mich ausgesperrt.
Erst rannte ich wie blödsinnig umher. Der Nebel zog herauf, am Personaleingang brannte Licht. Ich klopfte auf die Scheibe. Dickes, kaltes Glas hinter Gitter. Niemand meldete sich. Zu den Wohnwagen wagte ich mich nicht. Die Leute dort würden mir Idioten gewiss nicht helfen. Sie erinnerten mich an die ganzen Völkerschaften, die über Jahrhunderte die kürzeste, aber gefährlichste Verbindung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nutzten, um auf die Alpensüdseite zu kommen oder umgekehrt. Misstrauen und Abschottung untereinander dürften an der Tagesordnung gestanden haben. Drei Stunden bis Sonnenaufgang. Und dann noch zwei, bis das Hotel öffnete. Ich eilte zum Hospiz, fand die Gotthard Kappelle offen, einstmals von Kapuzinern gegründet, nun aber ohne Licht, setzte mich auf eine Bank und fing zu zittern an infolge Zugluft, die durch brüchige Scheiben strömte. Wie viele Gebete wurden hier schon gestammelt? Zum Dank und zu guter Hoffnung. Säumer mit gestauchten Knöcheln, Halbverfrorene, verstörte Adlige oder Bürger, die auf Schlitten gebunden Todesängste ausgestanden hatten. Irgendwann schlummerte ich vor mich hin, aber die jähe Erinnerung an meine Lage trieb mich wieder hinaus.
Zwei Mal winselte ich. Dann rief ich. Entschieden und klar. Aus voller Brust. Beim Hospiz hörte ich eine heisere Stimme. Eine Tür öffnete sich, ein älterer Mann, eine Art Glöckner liess mich ein, indem er Abstand wahrte. Ich gelangte in ein Treppenhaus. Mehr könne er mir nicht bieten, meinte der Mann. Irgendwann war er verschwunden. Ich setzte mich auf die Treppe, hörte Schritte hinter den Zimmertüren, vor denen Bergschuhe standen. Noch einmal rief ich, denn ich empfand Wut darüber, dass ich auch sozial gefallen sein könnte, so vor Türen auf Treppen hockend. Ein vollkommen törichter Gedanke. Jemand wünschte Ruhe, und ich hielt den Mund. Ich durchwachte die folgenden Stunden. Das frühe Sonnenlicht zeigte mir, dass die Tür, vor der ich am Boden kauerte, eine Bibliothek war. Es stand geschrieben: «Goethe-Bibliothek». Sie stand offen. Ich fand Bücher und ein Sofa. Darauf legte ich mich und schlief sofort ein, obwohl das Polster nach klinischer Seife roch.
Im Hotel war schon Betrieb, als ich zurückkehrte. Erleichtert stürzte ich in mein Zimmer, packte den Schlüssel und holte meinen Ausflug zu den Windrädern nach, da noch immer Wolken kamen und gingen. Etwas arglos vor Freude und Erleichterung stürzte ich in mein Zimmer zurück, das nun frisch hergerichtet war. Ich befreite mich von den Bergschuhen und dem Handy, mit dem ich die wolkenumflorten Windräder abgelichtet hatte, auch klaubte ich den Geldbeutel aus der Hosentasche. Aber das zweite Missgeschick hatte schon seinen Lauf genommen. Dösend stellte ich fest, dass mein Rucksack fehlte. Sofort eilte ich hinunter in die Rezeption. Dort wurde ich nicht verstanden. Also kehrte ich zurück, fand aber meine Zimmertür verschlossen. Erschöpft vom ersten Missgeschick geriet ich ausser mir, woraufhin ein Tuscheln unter dem Personal entstand. Niemand redete Deutsch. Es dauerte, bis jemand kam, das Zimmer zu öffnen. Darin fand ich den Rucksack, aber keine Schuhe, kein Handy und keinen Geldbeutel. Das überforderte mich derart, dass ich ausserstande war, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fühlte mich trickreich bestohlen. Gleichzeitig packte mich die Scham, wie rasch ich doch geneigt war, diesen Leuten kriminelle Energie zu unterstellen. Genauso rasch hatte ich meine selbstverschuldete Lage in der Nacht als soziale Ungerechtigkeit beklagt. Da brannte sich mir die Ungewissheit ein, die Menschen auf der Flucht ausstehen, und die Ablehnung, die ihnen entgegenschlägt. Besonders dann, wenn sie, wie ich nachts, ihre Lage den Privilegierten, die ihnen helfen könnten, als ungerecht anlasten, als wären diese daran schuld. Ein Kellner brachte mir Latschen, die gefunden wurden, woraufhin ich entnervt klarstellte, mir fehlten Bergschuhe, keine Latschen, aber der Mann zuckte nur beleidigt die Achseln. Zwei Frauen suchten mit meiner Nummer nach dem Handy, aber es war nur auf Vibration gestellt. Mehr als einmal verlor ich die Fassung. Die Leute gingen auf Abstand zu mir. Da huschte eine ältere Frau von der Raumpflege, die sich im Hintergrund aufgehalten hatte, an mir vorbei und gab mir lächelnd Zeichen wie einem Kind, das ausser sich geraten ist, ich solle einfach in Ruhe abwarten.
Drei Stunden sass ich in der Gastwirtschaft. In Socken. Ohne Geld, ohne Handy. Auch ohne Lesebrille. Dazu kam also auch meine schiere Blindheit am Laptop. Ich sass in Gedanken versunken an die Zeichen der Raumpflegerin, die ich aber auch nicht mehr fand. Noch nie hatte ich diese Blösse erlebt, diese Art von Nacktheit, die mich vor allen zum Bittsteller machte. Schon sah ich mich barfuss in den Bus steigen und soweit reisen, wie es ging. Irgendwann würde ich Anzeige erstatten müssen. Zum Glück ging der Kurs erst in nach dem Mittagessen. Solange musste ich warten. Auf einmal kam sie, wie aus dem Nichts, die Jüngste im Personal, wie mir schien, mit allen meinen Sachen, die mir fehlten.
In meiner Arglosigkeit hatte ich beim letzten Mal das Zimmer verwechselt.
Zufälligerweise war es offen gestanden. Meine Entschuldigung brachte ich glaubhaft herüber, denn das Personal winkte wohlwollend ab. Gebeutelt vom Leben versuchte ich, mich erneut auf den Gotthard zu besinnen. Die Statuen hier oben weckten mein Interesse. Wenn es einen Mythos zu entziffern gilt, darf man nichts für nebensächlich halten. Einer hatte die Hände wie zum Gebet erhoben, die Handinnenflächen zum Gesicht gewandt. Von der Seite betrachtet sah ich jedoch, dass er Lasten stemmte. Seine Ellenbogen ruhten auf der Körpermitte, die ganz unter die Hände geschoben den nötigen Schwerpunkt bildete. In der Nähe entdeckte ich einen Urschweizer, mit Bart und Fellkleid, das umgürtet war. Er zog ein Pferd, auf dem ein Edelfräulein ritt. Beim Näherkommen erkannte ich entsetzt, wie hässlich sie war. Das lag daran, dass es sich tatsächlich um einen älteren Herrn handelte. Der Zopf im Nacken und der verschnörkelte Kehlenschutz verhalfen zu dieser Verwechslung. Ein graziler Adliger oder ein Bischof, der sich über den Pass bringen liess. Mit Krönchen, Pelerine und einem Stab in Händen, der keine andere Funktion hat, als seine Macht zu sichern, die es ihm erlaubt, anderen Befehle zu erteilen.
Ein Befehl. Eine Ausrichtung. Und keine Fehler. Hier nicht.
Unmittelbar bei der Passtrasse über der Zufahrt zum Hotel, mit Blick nach Norden über den Piazza-See und den Gebirgszug mit dem Eingang zur Festung fand ich meinen eigenen Felsen, mein persönliches Sasso zum Sitzen, wo ich ahnte, dass hier etwas auf den Punkt gebracht würde. Vor Jahren, in Zeiten persönlicher Unklarheit, als noch eine ganze Zukunft auf mir lastete, liebäugelte ich mit einer Phantasiefigur: Ein Mann meines Alters, ein Alter Ego, das in die Berge steigt, um zu verschwinden. Ins Grenzenlose, wie Goethe sagt. Wie genau dieses Verschwinden vonstatten gegangen wäre, liess ich damals unbesprochen. Zuvor hinterlässt diese Figur in einer Hütte, vielleicht in diesem Hospiz das Manuskript einer gesamten Philosophie über den Menschen in seiner Entfremdung zur Welt, dem damaligen Wortlaut nach eine existenzial visionäre Medition sauber verschnürt auf dem Nachttisch. In der falschen Annahme, ich hätte diese dunkle Zeit hinter mir gelassen, bedrängte diese Phantasie mich erneut, da ich nun eine Landschaft vor mir sah, die sich zu diesem sonderbaren Verschwinden bestens eignen würde. Nun aber kam es mir vor, als wäre mir diese Aussicht mit allerhand Spielzeug verstellt worden, das mich wundersam davon ablenkte, verschwinden zu wollen. Die gesamte Kultur, die sich im Verlaufe von Jahrhunderten an diesem Pass festsetzte. Kultur, die in Augen Goethes als höhere Natur zu verstehen war: Blinkende Windräder, kleine Autos, Abschrankungen, Autobusse, die Staumauer, die alten Pferdestallungen, bunte Menschen, die sich wie Ameisen um die Seen bewegten, Hunde, die verspielt herumtollten, Schlitze im Berg, die auf verborgenes Leben schliessen liessen. Diese Einsicht brachte mich erst zum Lachen. Aber das Lachen verkehrte sich zu einem Heulen, dem ich kaum widerstand. Schliesslich packte mich ein Schluchzen, erschöpft und gebeutelt von meinen Pannen, es kam und ging in Wellen, ich rief nach Menschen, die mir nahestehen, während sich mein ganzes Leben zu entladen schien.
Und der Wind trug alles fort.
Als ich mich auf das Postauto zubewegte, eilte der Fahrer heraus und hielt einen Autoschlüssel in die Höhe. Jemand hatte ihn liegenlassen. Der Fahrer rief amüsiert, ob jemand einen Mercedes haben wolle, er hätte einen zu verschenken. Ein junger Vater kam betreten auf ihn zu, während seine Frau sich abwandte. Und während der Fahrer ihm den Schlüssel aushändigte, ermahnte er ihn, auf einmal ohne jeden Humor, man müsse doch seine Sachen beisammen halten. Ermahnung war hier Pflicht. Wer Fehler begeht, gefährdet auch andere angesichts von Naturgewalten, von der ich keinen Begriff habe, und angesichts einer Geschichte, die uns überrollen kann.
So bestieg ich das Postauto und verkroch mich auf die hintersten Sitze.
Kommentar verfassen