Respektiert Erwachsene! Das bekommen Heranwachsende zu hören. Indes heisst es in der gegenwärtigen Politik: Respektiert Andersartige! Populisten wehren sich dagegen. Das liegt auch daran, dass auch ihnen keinerlei Respekt entgegengebracht wird. Respekt ist rasch gefordert. Dabei ist er ein schwieriges Geschäft.

Es ist viel wert, wenn man andere einfach leben lässt. Aber es ist kein Respekt. Das gelingt auch mit Gleichgültigkeit, sogar mit Verachtung. Auch Toleranz, bei der wir Fremdes einfach dulden, ist noch kein Respekt. Respekt ist in aller Munde. Im Vorraum zu Toiletten im Cäcilienhof in Potsdam wollte ich wie üblich einer Dame, die dort stand, Kleingeld fürs Putzen aushändigen. Sie schaute mich fassungslos an. Ob ich scherze. Von Selbstironie keine Spur. Ich hatte eine Bürgerliche mit Niveau für eine Putzfrau gehalten. Eine Respektlosigkeit schlechthin. Auch meine Entschuldigung konnte ihre Empörung nicht lindern, als hätte ich sie in ihrem tiefsten Selbstverständnis infrage gestellt.

Diese Art von Respekt, die die Dame einfordert, ist leichte Kunst: Sei höflich! Beachte die Schichtung der Gesellschaft.

Aber auch ein Gangsta-Rapper fordert: Respect! Dabei singt er dauernd vom Mutterficken, von Hurensöhnen und vom Kiffen. Unmöglich kann er das gleiche meinen wie die Frau im Cäcilienhof. Sein Respekt steht eher für die Empörung der Putzfrau oder der Raumpflegerin darüber, wie besagte Dame meine Verwechslung quittierte. Auch die Unterschicht verlangt Respekt. So gesehen wirkt Respekt eher wie etwas Selbstbezogenes. Aber immer, wenn wir einfordern, dass man auf uns Rücksicht nimmt, setzt man sich diesem Verdacht aus. Es mangelt also an Respekt unter uns. Das beklagt der Soziologe Richard Sennett. Nachdem er eingehend wie so oft Quellen zur liberalisierten Berufswelt abgearbeitet hat, kommt er zu einer Bestimmung von Respekt, die uns weitaus mehr abfordert als untätige Toleranz.

Respekt, so Sennett, bedeutet, dass wir bei anderen anerkennen, was wir an ihnen nicht verstehen. [p 214]

Der Moment dieser Einsicht führt, so der Autor, wie von selbst dazu, dass ich ihnen auf Augenhöhe begegne. Dass meine Beziehung zu ihnen mehr Achtung und mehr Gleichheit enthält [ebd].

Tatsächlich steckt in der Verachtung anderer die Anmassung, man durchschaue sie völlig. Aber auch die Einsicht, dass ich etwas an ihnen nicht verstehe, führt nur bedingt zu Respekt: In der Nachbarschaft meiner Schwester lebte eine Familie, die selbst an schönsten Sommerabenden früher als hierzulande üblich die Gartensachen, Kissen und Geschirr zusammenpackte und die Läden vollständig schloss. Unter Nachbarn gab es keine Erklärung für dieses sonderbare Verhalten. Im Sinne einer untätigen Toleranz wurde es hingenommen, aber nicht respektiert. Unwissen kann genauso zu Gleichgültigkeit, unter Umständen auch zu blanker Ablehnung führen. Gewisse Dinge wollen wir gar nicht verstehen. So etwa die Gründe, die zur Sharia führten oder zur Frauenbeschneidung. Auch scheuen wir davor zurück, private Abgründe auszuleuchten, ob es nun die eigenen sind oder fremde.

Zu Einsicht und Anerkennung des persönlichen Unverständnisses gegenüber Fremdem kommt die weitere Einsicht, dass dieses Verhalten in einem Anliegen gründet, das mit der gleichen Welt zu tun hat, mit der auch ich verstrickt bin. Offensichtlich fehlt mir die nötige Information, die mir das fremdes Verhalten begreiflich machen würde. Meistens stört uns das nicht. Die untätige Toleranz hält auf weite Strecken ihr Versprechen, für soziale Stabilität zu sorgen.

Immerhin garantieren wir gemeinsam demokratische Mehrheitsbeschlüsse. Also sollten wir einander nicht egal sein.

Der Respekt, den Sennett meint, setzt ebenso ein hypothetisches Wissen voraus, das als eines der wenigen sinnvollen Vorurteile am besten allen Menschen zu unterstellen ist. Nämlich dieses: Ich weiss, dass du mit der gleichen Welt zu tun hast wie ich. Dass du davon betroffen bis wie ich und daher ein Anliegen verfolgst, das du meistens nicht selbst gewählt hast, auch wenn es trotzdem zu deiner eigenen Angelegenheit geworden ist. Eben wie bei mir. Und ich weiss, dass du nicht alles, was dein Anliegen betrifft, allen Leuten je nach Bedarf unter die Nase streichst, genau wie ich. Und dass du sehr wohl darüber redest, sobald ich dir mit Respekt begegne.

Denn erfahre ich über die Gründe deines Anliegens, dann erfahre ich mehr über die Welt, die wir teilen.