Ein Zebra, das durch die Serengeti prescht. Ein Kind am Meeresstrand mit ausgebreiteten Armen. Zwei Bilder, die uns sehnsüchtig machen nach ungetrübter Natürlichkeit. Kein Käfig mehr. Die Energien fliessen. Leider aber erzählen diese Bilder nur die halbe Wahrheit, denn sie sind aus Zusammenhängen gerissen.
Gabor Maté verdanken wir eine wichtige Einsicht. In Vancouver betreut der ungarischstämmige Kanadier als Arzt Indigene, die schwer drogensüchtig sind. Die Ergebnisse seiner Praxis bestätigen die These, wonach schwere Drogensucht auf einer Traumatisierung beruht: Übergriffe, Missbrauch, Ausbeutung, Entwürdigung. Ein übler Tatbestand, der in dieser Volksgruppe gehäuft vorkommt. Wie so oft bringt uns die Wissenschaft ein Umdenken bei, sofern wir darauf hören: Drogensüchtige sind weder verwöhnt noch verantwortungsscheu. Es sind Menschen, die infolge einer Traumatisierung verstört und herabgewürdigt im Drogenrausch ein ozeanisches Weltgefühl beschert bekommen, das sie zwar kurzzeitig, jedoch zuverlässig von dieser Pein erlöst. Aber darum geht es hier nur mittelbar. Leider. Drogensucht ist einem Käfig vergleichbar, dem jemand nur mit Mühe entkommt. Aber auch die sozialen Verstrickungen, die traumatisierend wirken, erfüllen den Vergleich mit einem Käfig. In einem Kurzvideo stellt Maté einen Gedanken zu der Frage vor, unter welchen Umständen Menschen in natürlicher Übereinstimmung mit sich lebendig sein können. Wollte man ein Zebra in seinem naturgemässen Verhalten studieren, so gibt er zu bedenken, dann würde man das Tier gewiss nicht im Zoo aufsuchen, wo es in einem Käfig seine Runden dreht, sondern in freier Wildbahn. Und schon sieht man das Tier nüsternschnaubend und mit flatternder Mähne durch Steppen preschen, sodass auch bei uns Betrachter die Energien ins Fliessen kommen. Man wünscht sich die gleiche Übereinstimmung für uns Menschen selbst. Hier endet das Video. Es sind Schlaglichter, die sofort viral gehen. Sehr oft aber sind sie aus dem ursprünglichen Zusammenhang geschnitten. In Sachen Internet müsste man das Problem des Fundamentalismus neu zur Debatte stellen. Denn der Gedankengang ist unfertig. Halbvergoren. Wie so oft bei Schlaglichtern, auch wenn die Urheber guten Willens und aus noblen Gründen dieses Video aufbereiten und hochladen. Denn ich bin überzeugt, Maté hätte diesen Ausschnitt nur bedingt so gelten lassen. Wendet man die Unterscheidung von Käfig und freier Wildbahn auf uns Menschen an, dann ergibt sich der denkwürdige Widerspruch, dass wir vergleichsweise nur in Käfigen leben, aber gewiss in keiner freien Wildbahn. Was sollte diese Wildbahn sein?
Denn das, wofür der Käfig sinnbildhaft steht, bedeutet Domestikation durch eine andere Spezies. Das ist bei Menschen aber nicht der Fall.
Uns hat keine andere Spezies gezähmt.
Auf den Punkt gebracht sind wir Menschen wild geblieben. Das klingt abwegig. Und dennoch fühlen wir uns wie in Käfige gesteckt. Verantwortung, Rechenschaft, Pflichtenhefte:
Die Energien fliessen nicht, wie sie könnten.
Daher ist im Falle des Menschen von Selbstdomestikation die Rede. Eine Form der Domestikation also, bei der keine fremde Art beteiligt ist. Selbstdomestikation klingt zunächst einleuchtend. Dieser Fachbegriff täuscht aber darüber hinweg, dass diese Art der Zähmung auch in Herden und in Schwärmen wirksam ist. Also ist er sogar falsch, sofern es darum gehen soll, dass eine Art die andere zähmt und züchtet. Zwar kommt es vor, dass Zebras durch die Landschaft schweifen, wie es ihnen beliebt. Dieses Bild aber steht nicht für das ganze Leben, das Zebras führen. Vergessen geht, dass ein Zebra nur dann frei schweift, wenn es sich gegebenenfalls in seine Herde zurückziehen kann. Und eine Herde bietet um so mehr Sicherheit, je grösser sie ist. Also kommt es vor, dass ein Zebra, das im falschen Moment abseits herumstromert, von einem Leittier eingeholt und an seinen Platz zurückgebissen wird. Eine Domestikation also, bei der keine fremde Art beteiligt ist. Zieht eine Traube von Bienen weiter, durchkämmen Arbeiterinnen den Schwarm nach dösenden Tieren und rütteln sie wach. Ein Stamm von Erdhörnchen verstösst Tiere niederen Ranges, wenn sie sich heimlich paaren. Der aufsässige Wolfswelpe wird solange erst im Nacken, dann an der Kehle gepackt, bis er sich auf den Rücken kehrt. Die Ansicht, man lebe nur dann natürlich, wenn man sich unbegrenzt fühlt, da man in keinen Käfig steckt, geht an der Natur vorbei. Dass die Energien frei fliessen, macht noch lange nicht die unverfälschte Natur aus, die wir alle sind. Auch Tiere in freier Wildbahn kennen Angst und Stress. Auch sie tricksen Ranghöhere aus, damit sie in die Lage kommen, ihre Energien fliessen zu lassen. Wir beklagen, dass wir Menschen einander in Käfige sperren, da wir hohe Ansprüche an das Zusammenleben stellen, dass wir uns also täglich daran hindern, frei zu schweifen und die Energien fliessen zu lassen.
Damit stören wir uns an einem natürlichen Herdenverhalten, das wir mit anderen Arten teilen.
Was bringt diese Einsicht? Immerhin dass wir ein Leiden nicht als persönliches Scheitern hinnehmen müssen, das sich aus einer sonderbaren Entfremdung von der Natur ergibt. Vielmehr ist es so, dass es eine natürliche Funktion hat, die überall im Leben vorkommt. Die Art, wie wir unser Leiden beurteilen, verstärkt oder lindert es. Wir leiden anders beim Arzt, als wenn uns jemand vorsätzlich auf die Füsse tritt.
Am Kühlschrank eines Bekannten klebt das Foto eines kleinen Kindes am Meeresstrand. Es hält die Arme weit ausgebreitet, dem Meer zugewandt, den kleinen Körper ins Kreuz geworfen, während die Gischt seine Knöchel umspült. Die Fotografie ist in Schwarz-Weiss gehalten, wie üblich bei Ikonen der Moderne, die dazu einladen, sie tief zu deuten. Ihr Besitzer schwärmt von starker Energie, die er bei dem Kind erlebe, von Weltvertrauen, von Selbstbestimmung, von kosmischer Einheit. Zustände, die wir an uns selbst vermissen. Die Fotografie aber hält manches unterschlagen, das zu dieser Klarheit wesentlich beiträgt, ohne dass es ausdrücklich genannt würde. Auch hier ist nur die halbe Wahrheit greifbar. Denn das Kind ist nicht allein an diesem Strand. Es würde jämmerlich umherirren. Stattdessen sind ausserhalb des Blickfeldes Personen anzunehmen, die dem Kind jederzeit Obhut bieten. Nicht zuletzt die Person, die das Bild knipst.
Was für uns ein Käfig ist, bedeutet für andere Obhut, Sicherheit.
Wir leben, wir überleben nur als Gruppe. Selbst heute, wo unsere gegenseitige Abhängigkeit in komplizierten gesellschaftlichen Abläufen wie dem Steuerwesen beinahe unkenntlich gemacht scheint.
Aber diese Abhängigkeit ist so bitter himmelschreiend wie seit je.
Der Druck oder eben der Käfig, den uns Moral, Pflicht, Verantwortung, Schuld und Sühne zumuten, ist keiner einzelnen Person anzulasten, sondern dem Egoismus der Gruppe, dank der wir überleben.
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