Viele hadern mit Prägungen aus ihrem familiären Umfeld. Ob absichtlich oder nicht haben Eltern oder Geschwister zu starken Einfluss genommen. Kriegt man diese Prägung nicht verarbeitet, kommt ein persönliches Scheitern dazu, das den Geschmack am Leben noch ganz vermiest. Diese Angelegenheit lässt sich anders sehen. Näher am Leben im Allgemeinen. Etwa anhand des Beispiels von Michel Foucault.
Michel Foucault`s Gesamtwerk ist noch heute in mehreren Fachbereichen der Wissenschaft unverzichtbar. Zuerst zeigte er, dass sich der Grundsatz, nach dem Wissen organisiert wird, im Verlaufe von Jahrunderten derart ändert, dass keine Logik in der Abfolge und daher auch kein Fortschritt darin zu erkennen wäre. Bekannt ist Foucault vor allem dafür, dass er die gesellschaftlichen Mechanismen beschreibt, anhand derer die Gesellschaft schwierige Menschen, Verbrecher, psychisch Kranke, also Anormale aussortiert oder zu Beobachtung und Kontrolle in Zellen einstülpt. Diese Kontrollen verfeinern sich derart, dass man mit Foucault von einer Biopolitik reden muss. Als Grundlage seiner Schlussfolgerungen dient jeweils die öffentlich gesprochene Rede aus verschiedenen Zeiten, der so genannte Diskurs. Ein Netzwerk von Begrifflichkeiten, das überall wirksam ist, indem es urteilt und so diese Sortierung alltäglich gewährleistet. In den Jahren vor seinem frühen Ende als eines der ersten prominenten AIDS-Opfer ging Foucault der Frage nach, wie man trotz dieser Sortierungen sein Leben als Einzelperson führen kann, als wäre es ein Kunstwerk. Innerhalb der Wissenschaft gibt es Stimmen, die es für problematisch halten, dass Foucault diese Mechanismen, die er beschreibt, als Homosexueller an sich selbst erlitten hat. Zum Beispiel als Messdiener im Poitou, als er sich einem Geistlichen anvertraute und dadurch genau in diese Prozesse geriet, die er später wissenschaftlich aufzeigte: Absonderung, Verhör, Gewissensprüfung, Umerziehung.
Gegner von Foucault werfen ihm vor, er habe diese Prägung in die Wissenschaft getragen und sie so mit seiner Subjektivität beschmutzt. Diese Wissenschaftler, ihrerseits mit Auszeichnungen gewürdigt, sehen die Situation aus einem kausalen Blickwinkel. Demnach entdeckt Foucault in der Gesellschaft überall diese Sortierung, weil er als Homosexueller darunter gelitten hat. Es besteht keine Notwendigkeit, das so zu sehen. Möglich ist ebenso die finale Sichtweise, wonach genau diese Prägung mitsamt der tragischen Erfahrung im hinreichenden Sinn nötig war, damit diese Sortierung ins öffentliche Bewusstsein tritt. Man könnte sagen, gerade die Betroffenheit zeichnet Foucault als Spezialisten in dieser Sache aus, schult sein Auge beim Durchforsten zahlloser Textquellen. Er wird fündig und zieht für alle nachvollziehbar seine Schlussfolgerungen. Wer seine Arbeit in Zweifel zieht, setzt hier an und nur hier, aber gewiss nicht bei irgendwelchen persönlichen Prägungen. Das ist schlechter Stil im Debattieren. Es lässt vermuten, dass den Gegnern die Argumente ausgegangen sind.
Ende der Sechziger-Jahre unternahm Foucault mit Studenten einen LSD-Ausflug ins Death Valley Kaliforniens. Die Protokolle dazu sind erst kürzlich veröffentlicht worden. Hingegen ist schon länger Foucaults Bekenntnis überliefert, dieses Ereignis sei eines der besten seines Lebens gewesen. Wie bekannt kann ein LSD-Trip mehrere Sitzungen Psychoanalyse ersetzen. In der Regel wursteln die einzelnen Gehirnregionen vor sich hin wie voneinander abgeschottete natürliche Populationen. Unter dem Einfluss des künstlichen Mutterkorns fangen sie munter an, miteinander zu plaudern. Gewisse Eindrücke filtert das Gehirn ohne unsere Kenntnisnahme. Ich nehme an, diese Engführung oder Sortierung dient wie immer dem Überleben. Nun fluten diese Eindrücke das Bewusstsein. Sollten es Metaebenen sein, die sich so öffnen, dann geschieht das stapelweise. Man erlebt auch Blockaden. Wie üblich, wenn zuviel Gehirn am Werk ist. Diese Hemmung jedoch ermöglicht eine ungewohnte Empfänglichkeit. Foucault jedenfalls gewinnt auf diesem Weg laut Protokoll gut fünfzigjährig eine für ihn zutiefst beglückende Erkenntnis:
«Ich verstehe jetzt meine Sexualität. Es scheint alles mit meiner Schwester zu beginnen». [p. 88]
Angenommen, Foucault wäre von dieser intimen Prägung verschont geblieben, dann müssten wir und die meiste Sozialwissenschaft auf sein Denken verzichten. Diese Prägung hat dazu wesentlich beigetragen. Wir hingegen könnten uns nur darüber lächerlich machen, wohin uns die Prägungen geführt haben, die uns zeitlebens anhaften. Weltbewegend wäre da nichts im Vergleich. Das mag meistens zutreffen. Das hiesse aber, das Leben verkennen, das Prägungen zulässt, indem es Möglichkeiten dazu streut, damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass Grössen wie Foucault oder etwa Wittgenstein, der genauso familiär verstrickt war, aus unseren Reihen hervorgehen. Man müsste Beispiele auch aus anderen Lebensbereichen zusammenstellen. Vielleicht haben auch bei Gandhi oder bei Mutter Theresa familiäre Prägungen ihr späteres Engagement mitbestimmt. Prägungen treiben dich in die Ferne, oder sie binden dich an den Ort deiner Herkunft. Das Leben braucht beides. Über all die Jahrhunderte lässt sich die Tendenz ausmachen, dass unter Erstgeborenen Pflichtbürger heranwachsen, unter Zweitgeborenen Revolutionäre. Das Leben braucht Bewahrung genauso, wie es Regelbrüche zulässt, wenn die Ordnungen einfrieren.
Also scheint das Leben intime Prägungen in seinen Gangarten einzuberechnen.
Und da stellt sich einmal mehr die Frage, was das Leben vorhat. Meine Antwort: Die Abdrift vom Planeten hinzubekommen. Foucaults Konzept der Biopolitik und der Emanzipation des Einzelnen dürfte unter anderem massgeblich die Kultur eines Silicon Valley geprägt haben. Mein Onkel floh in die Vereinigten Staaten, da er seine Stammfamilie hinter sich liess, die dauernd um Geld stritt und dabei schamlos intime Blössen ausnutzte. Zwar tat er dies als einer unter Millionen, die diese Fluchtbewegung seit Jahrhunderten hinter sich bringen. Sie alle aber wuchsen in Übersee zu einer Kultur zusammen, die im Wettstreit mit anderen Grossmächten die erste Technologie zur Abdrift gleichsam ausschwitzte.
Aber dieser Zusammenhang ist und bleibt hypothetisch. Ich finde ihn lediglich hilfreich, um Klarheit zum Leben zu gewinnen.
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