Für Germann

Moderne Kunst gilt als schwer verständlich. Viele finden sie verschroben, aufdringlich, herausfordernd. Ganz richtig. Genau darin liegt ihre gesellschaftliche Aufgabe. Sie bricht mit etablierter Überzeugung, stösst sie vor den Kopf. Darin wäre jedoch keine Gegnerschaft, sondern eine Zusammenarbeit zu sehen. Etwa in der Art, wie ich mir das Verhältnis zwischen Gott und Teufel, sofern überhaupt, nur als Zusammenarbeit vorstellen kann. Alles andere dünkt mich blauäugig.

Was fange ich damit an, wenn Germann die Hälfte einer Autocarrosserie so an die Decke hochzieht, dass sie aufklappt? Oder: Eine Komposition in C wird aufgeführt. Die Pinanistin drückt diesen Ton unablässig in kurzem Abstand. Eine halbe Stunde lang. Das fällt lästig, es macht sogar aggressiv, auch wenn das kleine Orchester diese Gehacke in C locker umspielt, sogar tonal, wie es eher selten in der modernen Kunst vorkommt. Gegen Ende erheben sich drei Leute aus den Reihen des Publikums. Zwei Männer und eine Dame in der Mitte. Die Frau ist kreidebleich, sie führen sie hinaus. Unmittelbar nach Ende der Aufführung kommt jemand herein und fragt nach einem Arzt. Was mich aggressiv machte, hat der Frau Übelkeit bereitet. So macht es jedenfalls den Eindruck. Man möchte dem Komponisten am liebsten unter die Nase streichen, was er da angerichtet hat. Aber ich höre ihn unaufgeregt antworten: «Interessant, interessant, was meine Musik mit euch macht.»

Szenenwechsel: Ein Tänzer mit bunt bemaltem Oberkörper wirbelt durch einen eng bemessenen Raum, wirft sich von einer Ecke in die andere. Tanzbewegungen, wie man sie kennt, sind keine auszumachen. Ein wildes Herumgewirbel, mit Stampfen und Schütteln, als wollte der Künstler eben diese gewöhnliche Erwartung vor den Kopf stossen, es sollten nun Pirouetten kommen, elegante Hüpfer, Platzdrehungen, vielleicht ein Salsa-Brezel oder eine Wickelfigur. Anschliessend hält einer einen Vortrag in ein Ofenrohr, indem er nur Laute von sich gibt und dabei seine Wangen massiert. Darauf folgt eine vierzigminütige Performance, bei der zwei Frauen einander gegenüber stehen. Sie halten die Zungen herausgestreckt übereinander, so dicht, dass sie sich berühren. Das Fleisch zuckt leicht, Speichel trieft massig in einem Faden zu Boden. Stille herrscht. Unter den Zuschauern, wie immer ernst und betont empfänglich, sind intellektuelle Posen auszumachen, wie etwa die Hand unter dem Kinn, während der Zeigefinger in die Wange sticht. Ich überlege mir, ob die Künstlerinnen wohl ausgelost haben, wessen Zunge über der anderen liegen soll.

Seit Jahrzehnten bekommt man solchen Schrott aufgetischt, wie viele entrüstet urteilen. Und man soll das auch noch für Kunst halten. Ja, seit wann genau? Mein Vorschlag: Seit dem Ersten Weltkrieg. Im Folgenden werde ich Tendenzen behaupten und keine Wahrheiten, die abstrichlos für alles gelten, was in diese Thematik fällt. Das halte ich für selbstverständlich, ein Hinweis darauf lohnt sich aber allemal. Kubismus und Fauvismus scheinen mir die Möglichkeiten zur Gestaltung entgrenzen zu wollen, die der Impressionismus als besondere Form des Realismus ausgereizt hat. Man beachte Cézannes Spätwerk, wo der Maler ganze Landschaften in pastellene Farbflecken auflöst, und erwäge die Möglichkeiten, die einem Künstler bleiben, wenn er Cézanne übersteigen will. Der Fauvismus sucht Neuerung durch figürliche Abstraktion mit knalligen Farben, der Kubismus durch geometrische Abstraktion, wobei afrikanische Büsten im Falle Picassos mitwirken, sowie durch Mehrperspektivität, die ineinandergewürfelt wird. Beide Strömungen zählen zur modernen Kunst, sie etablierten sich aber deutlich vor dem Ersten Weltkrieg. Dazu gehören auch weitere Beispiele wie etwa Marcel Duchamp und sicherlich Andere.

Anders Dadaismus und Surrealismus. Diese Strömungen verstehen sich ausdrücklich als Auflehnung gegen alles Etablierte im Umfeld des Ersten Weltkrieges. Bürgertum und Adel verantworten diesen Fleischwolf, mit dem niemand gerechnet hat. Die Truppen brachen bewaffnet und fröhlich singend zu einer Wanderschaft auf, bis der Feind sie fand oder sie ihn. Man würde heldenhaft den Sieger ausfechten wie in früheren Kriegen und auf Weihnachten wieder zu Hause sein. Die Erweiterung des Industriellen auf das Töten von Menschenmassen war eher schwierig abzusehen. Dennoch hielten die drei Kaiser daran fest, trieben die Rüstung an, schickten ganze Menschenmassen in Granatenhagel, Feuer und Gas. André Breton belauschte als Lazarettsoldat die Fieberträume der Verwundeten. Was er zu hören bekam, nahm er als Anregung zum Surrealismus.

Bis zum Ersten Weltkrieg stand die Kunst im Dienst der Politik wie etwa das mittelalterliche Kunsthandwerk, das ganz auf die Besoldung durch Kirche und Klöster angewiesen war. Die Renaissance verherrlichte die Macht neureicher Bürgersfamilien, wie etwa der Medici, die zu ihrem Aufstieg den Umstand nutzte, dass die Katholische Kirche in ihrem Ansehen am Boden lag. Sie finanzierten Kunst, um dem neidischen Volk zu beweisen, wie kultiviert sie sind. So betrieben sie hinter diesen Kulissen aus Marmor und Ölfarbe ihre Geschäfte in der gleichen bäuerischen Weise weiter, wie sie heute noch dem Finanzwesen eigen ist. Der Barock verherrlichte mit seinem endlosen, mehrstimmigen Geflecht Herrn und König als Zentralmacht, die Klassik widmete sich dem Menschen, der durch Aufklärung und Vernunft geadelt wird. Erst die Romantik kehrte sich ab von der drückenden Politik eines Spitzelstaates unter Metternich. Im Vorfeld zum Ersten Weltkrieg kam es zur Neuauflage dienstfertiger Kunststile: Neoromantik, Neobarock, Neoklassik. Spätestens seit dieser Weltkatastrophe geht die Kunst eigene Wege, indem sie genau die Fehler ins Auge fasst, die jede Politik unter dem Druck ihrer Verantwortung begeht. Was die Kriegstreiber als Kunst hochhielten, wird als l`Art pour l`Art wie ihr politisches Erbe weggespült, und sei es ein Mozart oder ein Wagner, trotz seines verkannten Früh-Hippietums. Dabei versteht moderne Kunst ihr eigenes Engagement als strikt politisch. Das ändert nichts daran, dass moderne Kunst politisch beinah wirkungslos ist. Die Schakal-Performance eines Joseph Beuys in New York hat keiner bedrängten Minderheit geholfen. Ihre Forderung, politisch zu sein, beschränkt sich wie beim Spitzensport auf repräsentative Wirkung: Ein siegreicher Athlet steht für die Fitness seiner Nation, aber eben nur repräsentativ. Genauso steht moderne Kunst dafür, dass das menschliche Gemeinwesen, zu dem sie gehört, kritisch ist und nicht handzahm.

Jedes menschliche Gemeinwesen pflegt ein Regelwerk, damit der Zufall unter Menschen möglichst unter Kontrolle bleibt. Keines überlässt das Zusammenleben dem persönlichen Gutdünken. Auch Anarchisten befürworten Regeln, sie erheben Anspruch auf Mitbestimmung, lehnen es nur ab, wenn man ihnen Regeln anbefiehlt. Für einzelne Angelegenheiten dieses Zusammenlebens gibt es Möglichkeiten, die alternativ wären, aber sich widersprechen. Allgemein gesagt: Alles, was die Gesetze in bestimmter Weise regeln, könnte man auch anders regeln. Sogar in gegenteiliger Weise, jedoch nie beides oder mehreres zugleich. Dazu gäbe es endlos viele Beispiele: Eine Gesellschaft setzt auf Glauben, also auf Offenbarung, oder auf Wissen, aber auf beides kann sie dem Grundsatz nach nicht setzen. Sie ist eine Diktatur oder eine Demokratie. Beides zugleich geht nicht. Monogamie und Polygamie schliessen einander aus. Eheliche Treue regelt das Verhalten unter den Geschlechtern, aber auch die offene Beziehung, die ihre eigenen Regeln kennt. Man kann nicht beides gebieten oder verbieten. Überschüssige Werte werden dem Privatbesitz zugesprochen oder zur Umverteilung angeordnet. Beide Möglichkeiten lassen sich niemals gleichzeitig verwirklichen. Oder aber in einer schwierigen Balance wie in der sozialen Marktwirtschaft, die genauso unter Druck gerät, wenn weitere Alternativen salonfähig werden.

Ein Gesetz, das Gegensätzliches im Grundsatz vorschreibt, wäre schlicht irrational. Oder eben surreal. Sprich nutzlos. Für einzelne Themen gibt es Alternativen, die man nicht alle zugleich gutheissen kann, ohne den Menschen Widersprüche zuzumuten, die sie überfordern. Und sofort rufen sie nach Gleichschaltung. Die Postmoderne hat sich als Gesellschaft der Vielfalt versucht. Nun sehen sich ihre Vertreter gezwungen, Vielfalt als Diktat durchzusetzen. Dadurch verantworten sie einen unsäglichen Populismus als Gegenreaktion. Aber es fällt auf: Es ist das Leben, das uns alle Möglichkeiten verwirklichen lässt, so sehr sie sich auch widersprechen mögen. Allerdings geschieht das nacheinander oder zeitgleich in verschiedenen Gesellschaften. Das ist mit Konflikten verbunden. Da das Leben jedoch immer auf beiden Seiten steht, spielt das so gesehen keine Rolle. Für das Leben zumindest. Wie in der übrigen Natur scheint das Leben uns auf Umweltveränderungen bereit zu halten, die unabsehbar sind, indem es uns dazu bringt, verschiedene Möglichkeiten, und sei es auch nur spielerisch, aktualisiert zu halten. Die moderne Kunst bekommt darin eine klare Aufgabe, die genauso konfliktreich ist. Sie erinnert nämlich an Möglichkeiten, bei der eine Gesellschaft, sofern sie reguliert sein will, nicht umhin kommt, sie zu vergessen, zu verneinen oder einfach zu missachten. Wiederum dient hier Beuys mit seinen Filzarbeiten als sinnbildhaftes Beispiel. Zwischen Gesellschaft und moderner Kunst müsste ein Vertrag mit folgenden Gesichtspunkten in gemeinsamen Einverständnis abgeschlossen werden. Nämlich:

  1. Keine Gesellschaft aktualisiert sämtliche Möglichkeiten, die es potential gibt, sie würde sich derart in Widersprüche verheddern, dass niemand damit zurechtkäme.
  2. Der modernen Kunst wird ein Spielraum zugestanden, der es ihr erlaubt, an die negierten Möglichkeiten zu erinnern oder neue zu erfinden, da wir nie wissen, welche Umweltveränderungen uns bevorstehen.

Es könnten also Umweltveränderungen passieren, die diese Möglichkeiten zu ihrer Aktualisierung dringend nahelegen. So hat man unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als man in Trümmern lebte, aufgrund grassierender Einsamkeit homosexuelle Bindungen hingenommen. Eine potentiale Möglichkeit, nämlich dass Gleichgeschlechtliche intim zusammenleben, wurde aktualisiert, sprich zugelassen. Deshalb verwirklicht moderne Kunst potentiale Möglichkeiten, wo man sie mit Füssen tritt, wo immer sie schlummern. Und wenn sie welche erfindet, dann hat das Leben auch dafür gesorgt.

Und da jede Gesellschaft bei der Verwirklichung von Möglichkeiten notwendig unvollständig und einseitig bleibt, sollte man dankbar sein, dass jemand im Dunkeln potentiellen Lebens gründelt und Unerwartetes zutage fördert.

Vielleicht wird eine Umweltveränderung passieren, bei der genau dieses Dunkle, Unerwartete, Verschrobene auf einmal nützlich wird.