Ein Selbstmord zerschneidet ganze Biografien. Man wagt sich gar nicht erst an seine Umwertung. Aber vielleicht ist es Zeit dafür.
Für Hinterbliebene eines Selbstmörders gibt es ein Leben davor und eines danach. Eine persönliche Katastrophe, die lange Krisen nach sich zieht. Die Liste bekannter Selbstmörder ist lang. Sie stammen unabhängig von Alter und Geschlecht aus allen Zeiten sowie aus allen Schichten. Selbstmord ist ein Tabu, das von daher rührt, dass wir nur als Gruppe überleben. Daher können wir kein Mitglied entbehren. Es reicht schon, dass Menschen ohnehin wegsterben. Wenn jemand sogar in der so genannten Blüte seines Lebens aus freien Stücken abtritt, schädigt er die Gruppe empfindlich. Dazu kommt, dass Selbstmord ansteckend wirkt. Die Hemmschwelle senkt sich, wenn unter Gleichalterigen Selbstmorde geschehen. Da sind Mittel gefragt: Die Drohung, man werde ausserhalb friedhöflicher Einhegung unsanft ruhen, also abseits der Gruppe, stärkt die Hemmung, sich das Leben zu nehmen. Die Kirche hatte noch drastischere Bilder zur Hand, wie man als Selbstmörder seine Ewigkeit in der Hölle zubringen wird. Bei Dante steckt der Verräter und Selbstmörder Judas kopfüber im Eis.
Selbstmord als Tabu gehört wie alles Moralische zum Egoismus der Gruppe.
Ein gewisses Verständnis kommt jenen Freitoden zu, die aus unmittelbarer Notlage geschehen. Etwa wenn ein Soldat, dem die Beine weggesprengt wurden, von Feuer umgeben ist und sich mit einer Überdosis Morphium vor Schlimmerem bewahrt. Es lag nie in seiner Absicht, sich das Leben zu nehmen. Karl Jaspers und seine Frau hatten jederzeit Strichnin zur Hand, falls die Gestapo bei ihnen Sturm läuten würde. Sie hätten die Kapseln genommen und sich ins Bett gelegt, ohne die Tür zu öffnen.
Vielleicht müssen wir uns damit abfinden, dass diese Fälle, die auf breites Verständnis stossen, auch für andere Freitode beispielhaft sind, die wir lieber unter den Tisch kehren.
Es gibt Selbstmorde, denen sogar Respekt entgegengebracht wird. Stefan Zweig wählte den Freitod, da er mit dem Nationalsozialismus als Tatsache nicht klar kam. Damit folgte er dem Beispiel Egon Friedells, der sich beim so genannten Anschluss Österreichs das Leben nahm, als braune Truppen in Wien einmarschierten. Auch die Selbstverbrennung buddhistischer Mönche anlässlich des Vietnamkrieges macht uns Eindruck. Es fällt uns nicht ein, diese Seelen im Höllenfeuer schmoren zu sehen.
Was aber ist mit den peinlichen Selbsttötungen?
Schon manche Leute sahen den Sinn ihres Lebens von einem Moment auf den anderen irreparabel zerpflückt. Niemand steckt das einfach so weg. Alltägliche Situationen, die Menschen in den Freitod treiben, sind derart verschieden, dass man sich fragt, was sie gemeinsam haben. Es gibt tausend Geschichten, warum sich Menschen das Leben nehmen. Hiob hat einmal vielen zum Vorbild gedient, wenn ihnen erneute Schlappen zustiessen. Für uns lautet die entscheidende Frage: Wieviel Misserfolg verkraftet ein Mensch? Wie oft steckt er unerfüllte Wünsche weg? Wieviel Schuld erträgt jemand? Wieviel Einsamkeit halten wir aus? Es gibt Grenzen des Erträglichen. Dadurch bestimmt sich auch, was zumutbar ist. Alle Menschen tragen einen Zerreisspunkt in sich: Wenn es um Burnout geht, um Jähzorn, um Nervenzusammenbrüche oder eben um Selbstmord. Dieser Punkt wird nicht erreicht, sondern überschritten. Erst dann ist er klar. Es ist damit zu rechnen, dass es wieder passiert. Wer diese Überschreitung erduldet hat, etwa mit einem ernstgemeinten Selbstmordversuch, der kennt ein Leben davor und eines danach. Diesen Menschen müssen jene gut zuhören, die davon bisher verschont geblieben sind.
Wie geht man mit diesem Schwergewicht an Tatsache um? Sie müssen uns belehren, nicht wir sie, die wir von unserem Zerreisspunkt keine Ahnung haben.
Oder noch keine.
Menschliche Freude und menschliches Leid wird dadurch bestimmt, dass wir uns an ideale Zustände erinnern, die wir zum Vergleich mit der gegenwärtigen Situation beiziehen. Oder wir orientieren uns an besten Vorstellungen, wie das Leben sein soll, und vergleichen damit, was uns gerade widerfährt. In beiden Fällen passiert der Vergleich von Natur aus. Wir kontrollieren ihn nicht. Kein Selbstmord ohne langjährige Vergleichsarbeit, die wir unserem natürlichen Verstand verdanken.
Wichtig ist, dass wir über unsere Erfolge und Enttäuschungen genau Buch führen. Das gehört zu unserer intimen Ökonomie. Irgendwann ergibt die Rechnung, dass das Leben nach so viel Scheitern seinen Sinn verloren hat. Und zuletzt, in Anbetracht des Umstandes, dass nur unter Menschen die gezielte und meistens aufwändig organisierte Eigentötung eines einzelnen Phänotypen vorkommt, zwingt sich mir folgender Schluss auf:
Selbstmord ist für Menschen ein natürlicher Tod.
Es gibt eine Reihe religiöser Argumente gegen die Selbsttötung, sie alle sind kaum stichhaltig. Auch ein Medium warnte vor Selbsttötung, man würde in transzendenten Zwischenbereichen stecken bleiben. Von einer Freundin, die ihren Bruder durch Suizid verlor, erfuhr ich, das Medium habe ihr privat, also ausserhalb einer Sitzung offenbart, es gehe ihrem Bruder gut, er befinde sich in der Schule des Lebens. Dieser Widerspruch scheint mir aufschlussreich. Aber auch die weltliche Argumentation hält nur bedingt vom Selbstmord ab: Demnach seien wir ausserstande, zu wollen, dass wir mit dem Wollen aufhören. Das klingt nach einer Ableitung vom politischen Argument, das klarstellt, dass die Demokratie sich selbst nicht abschaffen kann. Denn nur ein Mehrheitsbeschluss könnte Demokratie für ungültig erklären. Sie wäre anschliessend gültig und ungültig zugleich. Das Verbot, demokratisch zu verfahren, beruhte dann auf einem demokratischen Entscheid. Dieser Widerspruch besteht für einen Selbstmörder keineswegs. Diese Menschen können durchaus wollen, dass ihr Wollen endlich aufhört. Für sie geht es auch um kein besseres Leben jenseits irdischer Verstrickung, sondern darum, dass sie sich möglichst rasch vollständig auflösen. Genauso gibt es Personen, die den Film ihrer Gedanken nur mit drastischen Massnahmen zum Verstummen bringen.
Angeblich produziert die menschliche Gehirnmasse aufs Gramm gerechnet ein Mehrfaches an Energie als ein Gramm Sonne. Wer also mehr versteht vom Leben, als zum blossen Überleben gerade nötig wäre, macht sich mehr Sorgen und steht mehr Ängste aus. Uns ist es auch um Identität zu tun, um Schuld und Verantwortung. Die permanente Vergleichsarbeit frisst wohl viel Energie, wenn wir unsere Zustände im Fluss des Lebens gegeneinander abwägend beurteilen. Diese zusätzliche Sorge macht unsere Mündigkeit aus. Wir sehen Zusammenhänge ein, vermerken Mangel oder Überfluss, packen Lösungen beim Schopf.
Selbstmord als Lösungsstrategie. Das ist anzuerkennen.
Wenn also der Selbstmord für Menschen ein natürlicher Tod sein soll, dann ist die Mündigkeit genauso zu würdigen wie bei anderen Entscheiden, die jemand in ihrem Leben trifft: Diese Person zieht Bilanz, intim ökonomisch wie sonst. Sie errechnet den eigenen Selbstwert als aufgebraucht, die Alternativen als abgegrast, eine Neuerfindung der eigenen Person als ausgeschlossen. Daher sind all jene sofort zu erlösen, die sich für den Selbstmord anderer schuldig fühlen.
Indem sie sich selbst beschuldigen, entmündigen sie die Person, die sich das Leben genommen hat.
Punkto Freitod kann niemand alleine die Verantwortung übernehmen. Ausser der Suizidant selbst. Diverse Einflüsse haben über Jahre dazu geführt, dass ihm das Fass überläuft. Ein Wort reicht, und die Lage kippt unwiderruflich.
Ein natürlicher Vorgang, der nicht persönlich zu nehmen wäre.
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