Der Wohlstand macht Traditionen überflüssig. Von Generation zu Generation dünnen sie aus. Indigene Kulturen verschwinden. Rund um den Erdball. Auch bei uns vor Jahren. Diese Entwicklung wird gerne beklagt. Auch unter uns, die wir kaum mehr Traditionen befolgen. Indigene Kulturen verschwinden aber auch deshalb, da ihre Mitglieder die westliche Kultur aus freien Stücken übernehmen. Genau wie wir es getan haben. Wer das bedauert, entmündigt diese Menschen. Wie zu Zeiten des Kolonialismus.

Claude Lévi-Strauss nennt seine berühmten Memoiren über die indigenen Völker Südamerikas «Tristes Tropiques». Traurige Tropen. Auf der Flucht vor Nazideutschland suchte er damals den urtümlichsten Moment, an dem ein menschliches Gemeinwesen zur Gesellschaft wird. Und er fand ihn im Brauttausch unter Familien. Diese im Titel benannte Traurigkeit erinnert zunächst an die Nambinquara, die er entdeckte und beschrieb. Sie leben weit jenseits aller Zivilisation beinahe nackt und schlafen unmittelbar auf dem Lehmboden. Bei ihnen bemerkte Strauss eine liebevolle Melancholie. Auf seinen Buchtitel hin befragt antwortete Strauss jedoch, er meine mit Traurigkeit hier die Tatsache, dass die indigenen Kulturen unwiderruflich vom Westen verdrängt würden. Die Bororo zum Beispiel hatten die Ordnung ihres Gemeinwesens kunstvoll in ihr Gesicht tätowiert. Diese Ordnung bildete sich ebenfalls in der kreisförmigen Anordnung ihrer Häuser ab. Von christlichen Missionaren als Vorhut der westlichen Moderne in Reihenhäuser gezwungen, verloren sie den Bezug zu ihrer angestammten Ordnung. Das zu erkennen schmerzt natürlich.

Aber wir kennen die Meinung der Bororo nicht, die als nächste Generation heranwachsen. Vielleicht haben sie lebhafte Gründe, dass sie dieser Veränderung erst zögerlich, später vielleicht ohne Vorbehalt zustimmen.

Ein befreundeter Schweizer stellt klar, auch hierzulande seien Indianer ausgestorben. In meiner Seminarzeit hatten wir an der Rigi unsere Zelte aufgeschlagen und brieten Koteletts auf dem Feuer, die unsere Mütter für uns gekauft hatten. Ein Älpler kam vorbei, mit Saumtier. Er blieb stehen, schaute auf den Grill und meinte: «Essn tuenz wie im Hotell.» Dieser Freund lebte als Versicherungsvertreter im Aussendienst in schwierigen familiären Verhältnissen, bis er eines Abends vorsätzlich genau den Weisswein in sich kippte, der ihn angriffslustig machte. Die Gefühle brandeten hoch, er liess sie zu, die Spannungen spitzten sich zu, bis die Situation kippte. Zu Gewalt kam es nicht, aber er packte einen Strick und verschwand im Wald. Schlussendlich landete er in der Psychiatrie. Höflich liess er jede Anweisung unbefolgt, die an ihn gerichtet wurde, spielte stattdessen Karten mit Insassen. Ratschläge zur Wiedereingliederung nahm er lachend entgegen. Die Ärzte, so erzählt er verschmitzt, hätten rascher aufgegeben als erwartet. Schliesslich leistete er Aufbauarbeit als Älpler im Misox, liess den Bart wachsen und trug oft den Melkstuhl am Gurt. Als Wanderer, die vorbeikamen, anfingen, ihn zu fotografieren, stieg er aus dem Programm aus und floh in Höhen, wo es bloss Ziegen gab, aber keine Ausflügler. Seitdem stellt er dort Ziegenkäse her. Hin und wieder kraxeln Hippies über seine Weiden, geniessen einen Trip unter dem Sternenhimmel. Er hält sie für Möchtegernaussteiger, nimmt sie genüsslich auf den Arm.

Traditionen helfen dazu, dass man ein schwieriges, leidvolles Leben gemeinschaftlich im Jahreslauf bewältigt: Der Älpler faltet die Hände, bevor er Kartoffeln verzehrt. Später lässt er den abendlichen Segen an Felswänden widerhallen. Dadurch unterwirft er die nebligen Tiefen seiner persönlichen Wirksamkeit. Er verortet sich in kosmischen Räumen, indem er für Frau und Kind, für Gehöft und Vieh ein gutes Leben erbittet. Eine Japanerin richtet das Regal zur Teezeremonie her. Sie stellt auf die untere Platte zur Linken das Kohlenbecken hin, zur Rechten eine Kanne mit kaltem Wasser. Ein Jude klagt an der Tempelmauer Schlomos. Ein Muslim wäscht sein Gesicht, die Hände, die Arme mitsamt Ellenbogen, die Füsse bis zu den Knöcheln. Tagsüber fastet er für einen Monat. Dabei behält er Blut, Speichel und Samen so gut als möglich bei sich. Traditionen garantieren Klarheit für das persönliche Leben. Das entlastet soweit, dass man in die Lage kommt, sich ganz den Belangen alltäglichen Zusammenlebens zu widmen. Ein handfester Nutzen also.

Diese Klarheit aber hängt davon ab, dass sie von anderen geteilt wird. Ein Drittes fehlt, ein unpersönlicher Beweis, wie ihn die Wissenschaft voraussetzt.

Wenn alle das jungfräuliche Gebären der Mutter Gottes für wahr erklären, dann steht diese Klarheit für alle fest. Daher ist sogar von Wahrheit die Rede. Diese Zuspitzung, die mir als postmodernem Menschen in dieser Angelegenheit völlig entgeht, spiegelt die Dringlichkeit, die Traditionen für Menschen haben kann: Regeln, Lehrsätze, Geschichten, Sinnbilder. Flagge und Wappen belegen die Zugehörigkeit, die Trachten den Platz innerhalb der Gemeinschaft. Je nach Anlass kommt ein gemeinsames Liedgut zum Einsatz. Auswendig, versteht sich. Gedruckte Lieder verstehen sich als Zeichen schleichender Auflösung der entsprechenden Tradition. Bestimmte Tänze sind so geregelt, dass sie die Annäherung Verliebter unter Augen der Gemeinschaft erlauben, schliesslich ist jedes menschliche Gemeinwesen um seinen Fortbestand besorgt. Traditionen bieten unverzichtbare Hilfestellungen. Sie entlasten davon, sich dauernd in wechselhaften Umständen mühevoll orientieren zu müssen. Auch die Trauer nach einem Todesfall ist klar geregelt. Es kommen Klagefrauen, die dir beim Weinen helfen. Auch Streitereien unterliegen dieser Ordnung. Im Mittelalter wurde ein keifendes Elternpaar aneinander gekettet. Und man gab ihnen nur einen Löffel fürs Essen. Der Friedensgruss in der Kirche nötigt Zerstrittene, sich die Hand zu reichen. Wer in Umständen des Wohlstands keine Lust auf Friedensschlüsse hat, geht den Leuten, die es betrifft, einfach aus dem Weg. Nach Belieben wechselt er Wohnort oder Arbeitsplatz oder beides, schliesslich spielt die Heimat keine Rolle mehr.

Der Idealtyp des westlichen Menschen kennt keine Wurzeln.

Traditionen sortieren vorweg die unverschämte Vielfalt an Möglichkeiten zu leben. Sie fügen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines persönlichen Lebens zu einer lückenlosen Einheit. Daher gibt es Traditionalisten, die bereit sind, für den Erhalt ihrer Ordnung zu töten. Für sie zerstört der Westen ihre Orientierung, die sie überlebensfähig macht. Dadurch sterben sie einen sozialen Tod. Also darf man sich dagegen tödlich wehren. Man muss es sogar.

Selbstmordattentäter zum Beispiel wären als Pflichtbewusste in den Blick zu bekommen, aber das gelingt uns kaum. Bei den Autodafés buddhistischer Mönche anlässlich des Vietnamkrieges hingegen haben wir da keine Zweifel.

Die Klarheit von Traditionen verblasst, je öfter ihre Mitglieder eigene Wege gehen. Die Reihen lichten sich. Für Gläubige muss es schrecklich sein, in halbleeren Kirchen den Gottesdienst zu feiern. Wohlstand kommt ohne diese Verklärung aus. Die Hochleistungsversorgungsgesellschaft stellt Mittel bereit, die vom schwierigen, leidvollen Leben entlasten. Das geht nicht ohne Technik. Auch die Grundrechte gehören auf diese Liste. Sogar an erster Stelle. Traditionen kennen keine Niederlassungsfreiheit, Wirtschaftsfreiheit nur bedingt, und ganz gewiss keine Religionsfreiheit. Ihre Mitglieder haben in den Reihen ihrer Ordnung zu verbleiben. Von Geburt an bis zum Tod. Nur so ist die Klarheit zum Leben für alle garantiert. Grundrechte gehören notwendig zum Wohlstand. Traditionen kennen die Kardinaltugend der Mässigkeit. Was überbordet, wird zurechtgestutzt, was das Soll unterläuft, an die Hand genommen. Die Moderne als Zeitfenster allgemeinen Wohlstandes nimmt von ihrem Wesen her auf Mässigkeit keine Rücksicht. Sie nutzt, was möglich ist. Und sie begrüsst es, wenn der Spielraum einer ganzen Gesellschaft zunehmend ausgeweitet wird.

Unter uns gibt es Romantiker von Traditionen. Sie leben sie nicht, aber mögen den Umgang mit Menschen, die sie leben. Wie jene Hippies beim befreundeten Älpler. Weltreisende, die sich aus allen familiären Verpflichtungen gelöst haben, fühlen sich verklärt beim Besuch in entlegensten Dörfern, wo nur minimaler Komfort hingelangt. Sie teilen die Sichtweise von Lévi-Strauss, sie bedauern, beklagen, kritisieren den Einfluss des Westens, verzichten aber nicht darauf. Zumindest seine Grundrechte liegen ihnen sicherlich am Herzen.

Sie missachten Folgendes: Das brutale Aussterben indigener Kulturen geht auch so vonstatten, dass einzelne ihrer Mitglieder eigenmächtig Mittel modernen Wohlstandes in Anspruch nehmen. Und sei es nur, dass sie einen mechanischen Dosenöffner nutzen, später einen elektrischen.

Unsere Romantiker wünschen, dass sie das leidvolle Leben fortführen, nur damit die Tradition, die Quelle ihrer Freude, am Leben erhalten bleibt. Das wäre eine Zumutung, meine ich. Und vor allem eine Entmündigung dieser Menschen. Denn eigenmächtig, das bedeutet mündig, solange andere nicht zu Schaden kommen.

Schon oft habe ich mich gefragt, wie es gekommen ist, dass England im 18. Jahrhundert die Eingeborenen im Einzugsbereich ihres Empires als edle Wilde beschrieben hat, wofür idealtypisch der Freitag im Robinson Crusoe steht, während es nur ein halbes Jahrhundert später die gleichen Eingeborenen brutal rassistisch für minderwertig erklärte und sich selbst als verpflichtet, diese Völker so zu entmündigen, dass sie ihre Traditionen sein lassen und sich verwestlichen. Meine Antwort: Sie hielten sie für edel, da sie annahmen, die Eingeborenen würden diese Anpassung an den Westen aus Einsicht und mit Freude tun. Das dürfte sich öfter als Irrtum erwiesen haben. Also konnten sie keine richtigen Menschen sein. Damit wiederholte sich die Brutalität christlicher Missionare, die Eingeborene zwangstauften oder verbrannten, wenn sie das Christentum ablehnten, da sie sonst an den Teufel gefallen wären und somit das Reich des Bösen vergrössert hätten. Hier aber ist die Rede von Indigenen, die von sich aus die westlichen Vorzüge übernehmen und so ihre Tradition sterben lassen. Wir sagen, es ist deine Freiheit, wenn du dich mit westlichen Mitteln entlastest, wenn du dich verwöhnst. Andere klagen: Du beschädigst die Tradition. Und viele versinken im Nichts.

Was gilt?

Wenn wir die These von der planetarischen Abdrift des Lebens als Richtmass nehmen, dann kommt man leider unweigerlich zum Schluss, dass Traditionen aussterben müssen.

Denn sie tragen nichts zu dieser Abdrift bei. Im Gegenteil.

Immerhin aber boten sie über Jahrhunderten einem menschlichen Verstand Halt und Orientierung. Denn der hat täglich wie nächtlich einen Energiehaushalt zu bewältigen, der im kosmischen Vergleich immens ist.