London Themse Südseite. Hier leben mehr Verlierer als Gewinner. Borough Market: Vollgestopfte Gassen, völkisches Essen. Allerorten blitzen Selfies. Ein Strassenkünstler hantiert mit einer kindlichen Handyattrappe, übergross und bunt glitzernd. Uns Passanten scheint er vor Augen zu führen, wie sehr wir auf dieses Gerät fixiert sind, indem er auch Gestik und Mimik überzeichnet. Was macht ihn so sicher, dass er die Angelegenheit richtig sieht und wir alle anderen falsch? Mir scheint, auch er hat nur mässig verstanden, was Leben ist.

Kleinkunst lebt davon, dass man anderen die Augen öffnet. Wird Eintritt bezahlt, nützen Aufklärungen dieser Art gar nichts, da das Publikum in der Darbietung nicht sich selbst gespiegelt sieht, sondern immer andere. Aber das erleichtert es, auch für sich anzunehmen, was an anderen peinlich auffällt. Auf offener Strasse jedoch verweigert man sich in der Regel einer ungebetenen Aufklärung. Wer anderen die Augen öffnet, ohne dass sie ihr Einverständnis dazu gegeben hätten, zeigt sich in der Regel ignorant gegenüber der Tatsache, dass seine Adressaten ungerührt ihrer Wege ziehen, statt dass sie dankbare Freude darüber zeigten, da ihnen dank dieser Performance nun endlich Schuppen von den Augen gefallen wären. Spontane Erleuchtung findet keine statt. Das tut dem Engagement dieser notorischen Aufklärer keinen Abbruch.

Das allgemeine Handy-Verhalten ins Lächerliche zu ziehen, ist gewiss keine Glanzleistung. Die eigentliche Herausforderung wäre seine Verteidigung. Schliesslich ist die Kritik daran ein Gemeinplatz  geworden. Auch ich habe mich schon gefragt, welche Zukunft mit Leuten zu erwarten ist, die sich andauernd selbst fotografieren. Eigentlich ein neurotisches Verhalten. Das kann man anders sehen: Fachleute, die mit dem Sterben zu tun haben, betonen jedoch, es sei wichtig für Sterbende, zu hören und zu sehen, dass andere einfach da sind. So lassen sich notorische Selfies milder, sozialer ausdeuten: Sie sind für andere geknipst. Damit die Adressaten die Klarheit täglich wenn nicht stündlich darüber garantiert bekommen, dass Andere einfach da sind. Nicht ausdrücklich für sie da, das könnte erneut zu Enttäuschungen führen. Sondern einfach da.

In der gleichen Welt.

Gleichzeitig fällt auf, dass das Handyverhalten, seitdem Smartphones die Märkte fluten, weltweit das genau gleiche ist. In Seoul genauso wie in New York. Das Gerät spricht die Menschen kulturübergreifend in derselben Weise an. Das sollte Grund genug sein, diesen globalen Prozess nicht als Fehlentwicklung, sondern als Evolution zu erachten. Und Evolution gilt immer für neutral. Umgekehrt erfreut sich die Verschwörungstheorie äusserster Beliebtheit, wonach die Masse an Menschen mit solchen Gerätschäften gefügig gemacht wird, damit Kritik und Auflehnung unterbleiben. Die Entwicklung von Smartphones setzt jedoch den Siegeszug von Personalcomputern fort, deren Pioniere Gates und Jobs damals zuerst vom Establishment verlacht wurden. Dass irgend eine Elite in dieser Sache über all die Jahrzehnte zielsicher weltweit die Fäden spinnen soll, halte ich ohnehin für eine Überschätzung dessen, was menschenmöglich ist.

Und schliesslich zeigt ein Blick auf das Leben an sich, dass es einerseits in Phänotypen individuiert ist, die also körperlich abgetrennt voneinander Selbsterhalt und Fortpflanzung betreiben. Bliebe das Leben als einzelner riesiger Glibber am gleichen Ort, bestände die Gefahr, dass es durch einen Meteoriteneinschlag oder sonstige Einflüsse vernichtet würde. Andererseits sucht das Leben alle erdenklichen Wege, damit diese Phänotypen sich miteinander zu einer neuen Einheit vernetzen.

Trennung und Verbindung sind beides unverzichtbare Gangarten des Lebens.

Wie immer streut das Leben Möglichkeiten, lässt den Zufall fruchtbar spielen. Sollten wir auch nur Albernheiten via Handy austauschen oder läppische Grussworte kurz vor dem Einschlafen, so ist immerhin die Verbindung zwischen uns gewährleistet, dass auch Nützliches oder Bedeutsames schneller als früher verbreitet wird. Gerade für Menschen, die eher auf der Verliererseite stehen, wäre das besonders wichtig.

Und es beschleunigt die kulturelle Evolution.

Wer aber entscheidet, was nützlich ist und was bedeutsam? Strassenkünstler kaum. Und Aufklärer schon gar nicht. Wie sie stecken wir alle in einer Denkblase. Wir meinen nur, wir überblickten die Welt, durchschauten Zusammenhänge ausreichend.

Das Leben selbst befindet darüber, was nützlich und bedeutsam sein wird.