Honig gilt für natürlich, Saccarin für künstlich. Das klingt so eindeutig, dass man stutzig wird. Denn mit Hilfe des schamanischen Zoom-Out-Effekts gelangt man zu einer Sichtweise, in der beides nur natürlich oder beides nur künstlich sein kann.
Das Eine ist unbedingt gut, da es natürlich entstanden ist, das Andere bedingt schlecht, denn es ist eigens gefertigt, also synthetisch. Dabei sollte auffallen, dass die Elemente, in die man Stoffe zerlegt, nur natürlich vorkommen und nicht hergestellt sind. Mit Synthetik bezeichnen wir die Neukombination dieser Elemente zu künstlichen Erzeugnissen, die in der Natur so nicht vorkommen. Die Herstellung von Saccarin klingt in der Tat alles andere als natürlich. Diesen Stoff gewinnt man aus Toluol oder aus Phthalsäure anhand entsprechender Verfahren. Da geht es unter anderem um Oxidation und Wasserabspaltung. Bienen hingegen sammeln Pollen und Honigtau, den süssen Kot von Blattläusen, vermischen die Masse mit ihren Magensäften und befächern sie, damit das Wasser verdunstet, bevor sie sie in Wachszellen einlagern. Also findet auch hier eine Art Wasserabspaltung statt. Das lässt schon mal aufhorchen. Zwar sind die Verfahren in keiner Weise vergleichbar, denn die Tiere kommen ohne Geräte aus. Sie zerkauen, was sie sammeln, und speicheln es ein. Nimmt man gedanklich mehr Abstand zu diesen Situationen, die sich so deutlich voneinander unterscheiden, klärt sich eine Gemeinsamkeit, die grundlegend ist:
Bienen wie Menschen filtern gezielt bestimmte Stoffe aus der Umwelt und fügen sie anders zusammen.
So versteht sich Synthetik. Bienen sammeln Pollen, auch Baumharze und Läusekot und mengen körpereigne Eiweisse bei. Ihre gefertigten Zellen sind ebenfalls Neukombinationen natürlicher Bestandteile. Sie machen in ihrer goldenen Geometrie ja durchaus einen künstlichen Eindruck. Auch ein Vogelnest, das verlassen in der Astgabel eines Baumes steckt, wirkt so gesehen künstlich, denn die faserigen Stoffe, aus denen es besteht, sind in gewissem Sinne auf unnatürliche Weise zusammengekommen, nämlich von einer Lebensform aus seiner Umwelt gefiltert und neu verbaut.
Was immer ein Lebewesen anfertigt, alle seine Veränderungen, die es an der Umwelt vornimmt, gehören zu ihm als so genannt erweiterter Phänotyp. Werner Geist schlägt dafür den Ausdruck «Pragmatyp» vor. Das Wirken von Bienen erscheint uns so wundersam natürlich, unsere hochraffinierten und hochpräzisen Techniken hingegen als bedenklich künstlich. Beides ist falsch. Bienen sind genauso synthetisch tätig, während wir von Natur aus, sprich nach unseren natürlichen Möglichkeiten Synthetiken herstellen. Wir übersehen inständig, dass auch wir natürlichen Ursprungs sind. Diese Sichtweise sollten wir uns angewöhnen.
Saccarin oder Honig, künstlich oder natürlich. Diese Unterscheidung, die Viele umtreibt, löst sich so gesehen auf.
Und das ist richtig so.
Wenn man das Leben als Einheit begreifen will.
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