Mir ist nichts heilig! Wer das sagt, der würde gemieden. Ein Rohling der übelsten Sorte. Nach anderer Lesart wäre diese Person schlicht ein Weltenbürger der Zukunft.
Während meiner Seminarzeit hörten wir das «Sanctus» aus Bachs H-Moll-Messe. Beides geniesst den Status von etwas überaus Wertvollem, eben Heiligen: Das Sanctus innerhalb des katholischen Ritus, wo die Wandlung gepriesen wird, die H-Moll-Messe innerhalb von Bachs Gesamtwerk. Das entsprechende Manuskript gehört zum UNESCO-Weltkulturerbe. Man wies uns Jugendliche an, aus Respekt aufzustehen, um es zu hören. So standen wir da und lauschten. Die einen peinlich berührt, andere belustigt oder andächtig in die Klänge versunken. Da ging mir durch den Kopf: Lob den Arschbacken! Als müsste ich zwanghaft diese Situation ausgleichen. Denn ohne Gesässmuskeln wären wir ausserstande, aufrecht zu stehen. Ebenso aus Respekt erhob sich der Gentleman nach altem Knigge, wenn seine Begleiterin Notdurft anmeldete, und ebenso, wenn sie von der Toilette zurückkehrte. Sein Aufstehen bezeugte ihr Würde und Respekt, die gezwungen war, Minderwertiges zu verrichten. Früher erhob sich die Schulklasse bei Eintritt der Lehrkraft. Wenn Gäste ankommen, gehört es sich noch heute, dass wir zur Begrüssung aufstehen.
Kein Respekt ohne Arsch.
Jede Kultur bewahrt etwas, das ihr heilig ist. Das Heilige wirkt wie der Brennpunkt seiner Orientierung in wechselhaften Umwelten, die alle zusammen diese eine Welt ausmachen. Heilige waren Sterbliche, die sich mehr als beispielhaft verhielten. Vielleicht setzte ihre theologische Einordnung im christlichen Sinne fort, was in der Antike Halbgötter waren. Während der Christanisierung dienten sie zur Ergänzung heidnischer Lokalgötter in Schluchten, Grotten, auf Anhöhen oder in der Nähe von Quellen. Sie wurden ihnen sozusagen aufgepfropft. Ein Vorgang, der Synkretismus genannt wird. Ein Verbot dieser Bräuche hätte den Leuten, die sie seit jeher pflegten, die christliche Botschaft abspenstig gemacht. So wären sie dem Reich des Teufels anheimgefallen.
Ich erinnere mich an die Fotografie einer modernen Performance in Schwarz-Weiss. Eine Künstlerin stellte die heilige Agatha dar, der man zur Marter beide Brüste abgeschnitten hat. Wie in Kirchen oft dargestellt präsentierte sie ihre Brüste auf einem Teller. Diese bestanden bei dieser Perfomance aus zwei Kondomen, die so mit Wasser angefüllt waren, dass sie sich busenartig wölbten, während die Reservoirs wie gereizte Warzen abstanden. Das wäre eine ausgefallene Fortführung der traditionellen Darstellungen dieser Heiligen gewesen, doch die Künstlerin war unten herum unbekleidet und schlug im Moment der Ablichtung entrückt ihr Wasser auf den Boden ab. Wozu das? Eine reine Provokation? Empörung erntet sich leicht. Gerade im Zusammenhang mit Belangen, die für heilig gelten. Als Erklärung dieser Performance halte ich das für zu platt. Im Gegenteil scheint sie mir einen Zusammenhang auf den Punkt zu bringen, der uns allzu oft entgeht. Georges Bataille hat darauf aufmerksam gemacht. Nämlich:
Wenn wir etwas für heilig erklären, so erklären wir notwendigerweise etwas Anderes für profan, für minderwertig, für niederträchtig.
Eine Heilige, die uriniert.
Warum nicht? Falls es diese Frau gegeben hat, tat sie dies mehrmals täglich. Bataille beschreibt die Verdrängung von Verbrechern, Huren, Bettlern, Wahnsinnigen aus der Gesellschaft als eine Art Aussscheidungsprozess, der gleichsam nach unten führt. Foucault hat dann gezeigt, dass wir sie später zu Kontrolle und Beobachtung in Zellen einstülpen, in Gefängnissen, in Kasernen, in Kliniken. Wir wollen diese infamen Menschen, wie Bataille sie nennt, keinesfalls berühren. Heilige hingegen sind da, sie zu berühren, ihre marmornen Füsse zu küssen, ihre körperlichen Überbleibsel zu betasten, Reliquien genannt, die diamantbesetzten Schädel, ihre Schweisstücher, ihre Bluttücher, damit sie uns heilen. Allesamt körperliche Belange, die uns sonst ekeln. Vor allem, wenn sie von Infamen herrühren. Diese Heilung durch Berührung gelingt jedoch nur, wenn Heilige genauso aus der Gesellschaft ausgeschieden sind. Ein Ausscheidungsprozess, der laut Bataille sozusagen nach oben führt.
Aber es ist die gleiche Ausscheidung.
Die literarische Figur des Abbé C, die Bataille ersinnt, ein Priester also, der als Nachfolger Jesu geweiht ist, hinterlässt seinen Unrat vor einer Haustür und verschwindet in der Nacht. Darüber lässt sich spielend lachen. Immerhin hat Bataille als Vertreter des Surrealismus kirchliches Gedankengut verkehrt, indem er wichtige seiner Werke zu einer «Atheologischen Summe» zusammengestellt sah.
Die Verkehrung als Handwerk des Surrealismus und später der Dekonstruktion wendet hier Heiliges in Profanes und umgekehrt. Füsse zum Beispiel stecken im Morast oder in Schuhen. Sie stehen für die Infamen unserer Gesellschaft, die täglich ihre Ausscheidung nach unten befürchten. Der Reiz, Füsse besonders zu verehren, indem man sie wäscht oder als Fetisch begehrt, schliesst, wie oft bei Fetischen dieser Art, gewissermassen einen Kreis. Ich erinnere mich an eine Fotografie aus dem Dunstkreis subkulturellen Lebens, wo ein Kellner einer Frau die Füsse über einem Silbertablett mit Schaumwein begiesst. Das findet man übertrieben und lächerlich. Aber wie weit muss eine Verkehrung gehen, damit sie uns Eindruck macht?
Menschliches wie Natürliches wird ganz, indem das Minderwertige ins Licht gehoben wird.
Ins Bewusstsein, das weder Heiliges noch Profanes kennt.
Kommentar verfassen