1. Aus der Betriebslehre von Google: «Wer Vertrauen bekommt, würdigt Vertrauen. […] Glaube den Technikern, nicht dem Marketing. […] Der Erfolg einer Firma hängt auch davon ab, ob die Angestellten ihrem Leitbild Glauben schenken. […] Die Sensoren der Menschen für Bullshit sind sehr fein. […] Wozu ein [BWL-]Plan? Ein Plan hält uns nur auf. […] Man muss Vertrauen in seine Leute haben und genug Selbstvertrauen, um sie den besseren Weg finden zu lassen.» Das ist das, was fehlt. Ein systemisches Misstrauen, das den Lehrberuf auf Primarstufe schlechterdings unattraktiv macht.
2. Die Löhne sind nicht das Problem. Sie kommen hier nur untergeordnet zur Sprache. Der Fachkräftemängel betrifft viele Berufszweige. Allerdings sind die Ursachen / Gründe nicht die gleichen. Die gehäuften Pensionierungen der Baby-Boomer-Generation kommen an erster Stelle als Ursache zum Lehrermangel zur Sprache. Offensichtlich wollen die meisten Pensionisten selbst auf Anfrage nicht länger in diesem Beruf unter gegenwärtigen Bedingungen arbeiten.
3. Die Ansprüche sind der Primarschule von verschiedenen Seiten über den Kopf gewachsen. Die Quellen dieser Ansprüche sind untereinander schlecht bis gar nicht vernetzt. Es handelt sich um einen Wildwuchs, der kultiviert gehört.
4. Bildung Thurgau informierte in einem Rundmail vom 26. Oktober 22 darüber, dass die Geschäftsleitung mit wesentlichen Vertretern der Schulämter Entlastungsmassnahmen seitens des Kantons für die Lehrpersonen diskutiert, die an der Dek-Runde Mitte Dezember 22 hoffentlich konkretisiert würden. Überlastung ist also eine erste bekannte Antwort darauf, warum dieser Beruf an Attraktivität eingebüsst hat.
5. Es ist bekannt geworden, dass junge Absolventen der Pädagogischen Hochschulen nach kürzerer Zeit ihre Lehrtätigkeit wieder aufgeben. Die Überlastung betrifft folglich alle Generationen, die im Dienst sind.
6. Die NZZ schreibt am 5. September 22 (D. Fritzsche): «Man will sich nicht eingestehen, dass viele der Bildungsreformen der jüngsten Vergangenheit gescheitert sind und einer Überholung bedürfen». Auch wenn die politischen Lager in dieser Frage gewiss uneinig sind, bestätigt die renommierte wirtschaftsorientierte Tagespresse Handlungsbedarf. Angeblich stimmt der Tages-Anzeiger als linksliberales Blatt damit überein. Eine denkwürdige Einigkeit.
7. Thesen behaupten eine mögliche Tendenz zu einem bestimmten Sachverhalt. Für jede gibt es Einzelfälle anzuführen, die ihnen widersprechen oder sie bestätigen. Sie schliessen Debatten nicht ab, sie stossen dazu an.
8. Das Kerngeschäft der Primarlehrkraft in Form des Fächerkanons, den sie unterrichtet, wurde im Zuge vergangener Bildungsreformen massiv ausgebaut. Nach wie vor ist es der Fall, dass die Lehrkraft dieses Kerngeschäft bei Vollbeschäftigung hauptsächlich im Alleingang bestreitet und verantwortet.
9. Ohne Lehrmittel geht das nicht, zumal diese ausdrücklich die Kompetenzen des Lehrplans 21 bedienen. Sie entlasten somit von der hochanalytischen Arbeit des Kompetenzstudiums. Die Lehrmittel stellen ausgearbeitete Jahrespläne zur Verfügung. Dieses unterstützende Angebot hat zweifellos seinen Nutzen, jedoch besteht unter manchen Primarlehrkräften der Konsens, dass diese Jahrespläne in keiner Weise alle zugleich so umsetzbar sind, wie sie sich anbieten. Auch sind die Lehrmittel derart komplex geworden, dass sie ein eigenes Management erfordern. Das Zürcher Rechenlehrmittel besteht pro Jahrgang aus sieben Einheiten, die Angebote online miteingerechnet, das Deutschlehrmittel Sprachland schafft es auf 18 Teile, dazu ca. vier Kommentarbände. Die heutigen Lehrmittel bieten wissenschaftlich zweckmässig orchestrierte Lerninhalte. Die generative Abfolge der Sachthemen etwa wird lehrplangemäss streng durchgezogen. Es ist also nicht möglich, sich mal hier und mal da zu bedienen, wie es gerade günstig erscheint. Das wäre eine dümmliche Handhabe solcher Lehrmittel, die der Selbstachtung einer Lehrkraft zuwiderläuft.
10. Lehrmittelfreiheit gilt nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr. Zwar wird man angewiesen, sich im Sekundarkreis unter Primarlehrkräften auf ein Lehrmittel zu einigen. Der Beschluss jedoch gilt fortan verbindlich. Individualisierung steht hier für Lehrkräfte ausser Frage. Der Beschluss soll den gleichen Stand in der Schülerschaft auf Sekundarstufe garantieren. Das bedingt aber, dass die Lehrkräfte die vereinbarten Lehrmittel auch in der gleichen Weise handhaben. Eine Feinabstimmung würde ganze Nachmittage an Koordination beanspruchen. Die Lehrmittel müssten planmässig umgesetzt werden, was allerdings insgesamt unmöglich ist.
11. Viele Primarlehrkräfte verständigen sich auf folgende subjektive Einschätzung: Die Arbeit von Woche zu Woche ist hektisch und oberflächlich. Ein Anstrich hier, ein Anstrich da. Die Kinder werden andauernd aus ihrer Konzentration gerissen. Vertiefung ist massiv erschwert.
12. Zeitgleich mit der Abnahme von Vertiefung und Konzentration haben die Erwartungen der Sekundarstufe an die Primarschule als ihre Zulieferin zugenommen. Das zeigt sich an den Fertigkeiten, die sie als eingeübt voraussetzt: Zehnfingersystem, Kleines- und grosses Einmaleins, Zahlen bis 1 Million auf Französisch und auf Englisch, dito Wochentage, dito Monate, dito Negationssätze, dito Uhrzeiten auf Französisch und Englisch, das Vokabular beider Lehrmittel 5. und 6. Klasse, die Verbzeitformen, Konjugationen (selbst das Präteritum durchgängig: ihr «lagt» an der Sonne), die deutsche Rechtschreibung, die vier Fälle, Kürzen und Erweitern, Dezimalbruchrechnen, die Wortarten, Umwandlung aller Sorten (inkl. Dezimeter, der völlig ausser Gebrauch ist), verschiedene Rechenstrategien (nicht nur schriftlich), Umgang mit Tablet, Umgang mit Zirkel und Dreieck, Umgang mit Wörterbüchern.
13. Nebst der Schulleitung bieten auch SHP, Logopädie, schulische Sozialarbeit sowie Psychomotorik der Lehrkraft ihre «tatkräftige Unterstützung» an, wie es in Stellenausschrieben gerne heisst. Das gilt nur für die Kinder, deren Lernschwäche erwiesen ist. Nun gibt es aber Fälle mit nur knappem Resultat. Ein Kind, das nur knapp eine Rechenschwäche oder nur knapp ADHS bescheinigt bekommen hat, stellt dennoch besondere Anforderungen, die ebenfalls die Lehrkraft zu bedienen hat, da kein Geld für eine Assistenz gesprochen wird. Das war früher schon der Fall. Diese Belastung jedoch ist im Gesamtbild zu gewichten, das in diesen Thesen deutlich werden soll. Diese so genannte tatkräftige Unterstützung geht ferner nicht ohne zusätzliche Bürokratie einher, die erheblich ist: Zur Anmeldung bei der Schulpsychologie soll eine Lehrkraft u. a. in gesonderten Gesichtspunkten genau unterscheiden, ob das Kind, das zur Abklärung vorgesehen ist, seine «eigene Meinung angemessen äussert», ob es «Kritik angemessen äussert» und ob es «eigene Wünsche angemessen äussert». Das hätte streng genommen zur Folge, dass man diese feine Unterscheidung bei rund zwanzig Kindern zu leisten in der Lage ist. Diese unterstützende Zusammenarbeit bringt es mit sich, dass Lehrkräfte in diversen Extrasitzungen mit Fachleuten zusammenarbeiten, die teilweise während des gleichen Zeitraums höher entlöhnt sind. Ausserdem haben sie deren Expertisen Folge zu leisten. Das versteht sich von selbst, trägt aber dazu bei, dass man sich als Lehrkraft chronisch untergeordnet fühlt. Ein Zustand, der arbeitspsychologisch ohne Zweifel Einfluss hat.
14. Der Schulalltag bindet nebst dem Kerngeschäft weitere Aufmerksamkeit in Form diverser Ansprüche, die täglich oder während des Jahres dazu kommen. Das sind Kleinmanagements, die für sich genommen wenig Aufwand bedeuten, in der Summe jedoch zur Belastung werden: Jokertage verwalten. Absenzen verwalten. 5 Liber einziehen für lokalen Marathon und denjenigen nacharbeiten, die es vergessen. Anmeldung für Schulzahnarzt einholen und denen nacharbeiten, die es vergessen, anschliessend die Zahnarzt-Karte einziehen und denjenigen nacharbeiten, die es vergessen. Impfausweis für Schularzt einziehen und denjenigen nacharbeiten, die es vergessen. Anmeldetalon für Elternabend abgeben, ausgefüllt einziehen und denjenigen nacharbeiten, die es vergessen. Protokolle verfassen für Steuergruppe, Konvent, Stufenkonvent und Projektgruppen, Protokolle nach Korrektur durch Schulleitung überarbeiten. Flyer verteilen für Pausenmilch, getrennt nach Zyklen, da für Zyklus 2 ein paar Sprüche auf Französisch draufstehen. Maibummel (mit)organisieren, lokale Sporttage (mit)organisieren, Teilnahme an kantonalem Sporttag (mit)organisieren, dazu Autositze auch für 6. Klässler beschaffen. Talon für Gruppeneinteilung Skilager (evtl. obligatorisch im Jahresrhythmus) mit nach Hause geben, rechtzeitig einziehen und abbuchen, denen nacharbeiten, die es vergessen. Umfrage für Skimiete rechtzeitig durchführen, Schuhgrösse und Materialbestellungen für Skilager einsammeln und denen nacharbeiten, die es vergessen. Zimmereinteilung erstellen und die sozialen Probleme klären, die damit einhergehen. Pausenaufsicht durchführen. SJW Hefte bzw. Modellbögen im Jahreswechsel ausstellen, Bestellung aufnehmen, nach Liste ausgeben, Geld einsammeln und denen nacharbeiten, die es vergessen. Ausflüge organisieren und durchführen, dazu Begleitpersonen organisieren, Beiträge für Kosten (Eintritte Museen etc) beim Kulturfond vorweg beantragen, diesem anschliessend Bericht erstatten, damit die Gelder gesprochen werden (die Quartalsbriefe wecken die Erwartung, dass dies viermal pro Jahr geschieht). Konflikte in der Klasse klären. Assistenz für Ins-Kinder täglich briefen. Persönliche Weiterbildung durchführen und belegbar abbuchen. Die Mitverantwortung der Kinder initiieren und betreuen (Ideenbüro). Talon für Schlittschuhgrössen ausgeben, rechtzeitig einsammeln und denen nacharbeiten, die es vergessen. Eisbahnausflug durchführen, dazu Bus organisieren. Notfallblätter bei Eltern aktualisieren, kleinkopieren und laminiert aufbewahren. Monatliche Elternmagazine mit nach Hause geben. Flyer für Hochbegabtenförderung ausgeben, Themen nachbereiten für Teilnehmende an dieser Förderung. Flyer für Märli- oder Kasperli-Anlass ausgeben. Verkehrsunterricht nachbereiten und online prüfen. Adventsfenster gestalten und Event durchführen. Schulzimmertüre und Korridor bei Garderobe gestalten. Elternkontakte nach Bedarf durchführen. Elterngespräche notfalls am Abend. Daten für Standortgespräche ausgeben und durchführen. Fächer im Sekundarschulbereich unter Primarlehrkräften abgleichen, an Koordinationen mit der Sek teilnehmen. Kerzen ziehen mit SuS, Transport dahin organisieren, Gäste im Schulzimmer empfangen: Schulleitung, Behördenmitglieder, Kollegen für Hospitation, Eltern nach Wunsch, SHP zur Beobachtung, kantonale Betreuung für Ins-Kinder, mit der anschliessend die Sache zu besprechen ist. Zahnhygiene ankündigen, Zahnbürsten und Becher sauber lagern und rechtzeitig bereithalten. SSA empfangen, falls Konflikte unlösbar herrschen. Nachbereitung für Kinder, die bei bei SHP, SSA, Logo etc. in Obhut sind. Hausaufgaben für Kranke zusammenstellen, evtl über Teams beraten und unterstützen. Zehnfingersystem üben lassen bis Beherrschung vor Übertritt in die Sek. Rückmeldungen von SuS verarbeiten, von Schulleitung, von Behörde, vom Kanton. Prüfungen unterschreiben lassen und archivieren, denen nacharbeiten, die es vergessen haben. Kollegiale Hospitationen durchführen und bürokratisch abwickeln. An Supervisionen teilnehmen. An schulinternen Weiterbildungen teilnehmen. An Weiterbildungen im Sekundarschulkreis teilnehmen. An kantonalen Konferenzen teilnehmen. Teamanlässe (Intervisionen) durchführen oder daran teilnehmen (sie sind freiwillig, aber ein ständiges Fehlen fällt auf). Kultureller Anlass (Lesung, Theateraufführung) organisieren, Jahresbericht verfassen. …. Bei all diesen Mikromanagements gilt es für selbstverständlich, dass die Lehrkraft sie ausführt. Jedenfalls werden keine Rückmeldungen dazu eingeholt.
15. Lehrkräfte haben Kritiken von verschiedenen Seiten selbstverständlich ernst zu nehmen: Von der Behörde, von den Eltern, von der Schulleitung, vom Kanton, von der Schülerschaft. Von Instanzen somit, die unmöglich einer Meinung sind.
16. Mit Kritiken ist von überallher jederzeit zu rechnen. Das Gefühl, ungeschützt zu sein, begleitet die Arbeit auf Primarstufe. Manche Schulleitung agiert als Beschwerdestelle, indem sie Kritik von Eltern kooperativ aufnimmt und bei der Lehrkraft platziert, ohne dass sie den Kritikern grundsätzlich nahelegt, zuerst mit der Lehrkraft das Gespräch zu suchen.
17. Wie bekannt haben Lehrkräfte sehr oft zwischen Tür und Angel Entscheide zu fällen, deren Ausgang ungewiss ist. Diese Entscheide dulden meistens keinen Aufschub, etwa wenn ein Kind weint. Die Vermutung, der Entscheid könnte Kritik auslösen, führt zu einer zusätzlichen Belastung, die auf Dauer Kräfte verzehrt.
18. Die Ausbildung zur Schulleitung erfolgt stufenunabhängig. Das kann zur Folge haben, dass eine Schulleitung auf der Stufe keine Erfahrung hat, deren Lehrkräfte sie bewertet. Ihre Bewertung gilt trotzdem. Es kann vorkommen, dass eine ehemalige Kauffrau einen Unterstufenlehrer bewertet, eine Kindergärtnerin eine Lehrkraft der Mittelstufe.
19. Kritik vonseiten der Eltern gebärdet sich oft als fachliche Beurteilung: “Weniger Ballspiele im Turnen.” Oder: “Manches Thema wird nicht richtig abgeschlossen.” Oder: “Wo bleiben die Ausflüge?” Oder: «Die Playlist für den Hintergrundsound beim Zeichnen erstellen Sie selbst, denn wenn Sie die Kinder Lieder auswählen lassen, kommt es unter ihnen zu Beleidigungen.» Manche Kritik wird pfannenfertig vorgebracht, also nicht als Frage oder als Bitte um Präzisierung, obwohl die Kritik meistens nur auf den Aussagen des Kindes oder auf das Hörensagen abstützt. Ein Beispiel: «Sie schauen mit den Kindern zu oft Fernseh.» Dabei klärt sich, dass das Kind auch Schulvideos mit Arbeitsäufträgen als Fernsehen begreift.
20. Eltern ist gestattet, Kritik anzubringen, wie es sie eben beschäftigt und wann immer es sie beschäftigt. Diese Feedbackkultur gilt für die Lehrkraft nur einseitig, denn es steht ausser Frage, dass sie Eltern kritisiert. Wie immer in der Geschichte hat sich damit die Situation der Lehrkraft als absolute Autorität einfach in ihr Gegenteil verkehrt. Ob sie auf die Füsse oder auf den Kopf gestellt wurde, hängt von der Einstellung ab. Der Abbau an absoluter Autorität betrifft auch andere Berufsstände.
21. Manche Lehrkräfte stellen fest, dass der Leistungsdruck auf die Kinder im Vergleich zu früher massiv gestiegen ist. Eltern wünschen gute Leistung auf Vorrat. Diese Sorge ist im Hinblick auf die liberalisierte und globalisierte Berufswelt sehr berechtigt, wo überall Rankings und Wettbewerbe herrschen. In immer mehr Familien gilt daher eine Note zwischen 4 und 5 bereits als schlecht, obwohl die Kinder genau wissen, dass dieser Werteraum mit genügend bis gut beziffert ist. Tränen fliessen vermehrt an Prüfungen. Nur schon Fehler beim Üben können Panik auslösen. Von einer Fehlerkultur sind wir entfernter denn je. Kinder benutzen öfters Sprays oder Duftstoffe, um sich zu beruhigen. Lehrkräfte, denen verbindlich nahegelegt ist, regelmässig zu prüfen, und zwar in allen Fächern, haben mit diesem Leid umzugehen. Je nach Resilienz bietet die Kündigung ein Ausweg aus dieser bedrückenden Situation.
22. Niemand interessiert sich systematisch für die Kritik von Lehrkräften. Bei der Diskussion zu Möglichkeiten der Entlastung von Lehrkräften, die derzeit im Gange ist wird die Meinung von Lehrkräften, die eigentlich unmittelbar betroffen sind, nicht eingeholt. Erneut sind es Funktionäre der Bildungspolitik, die über die Köpfe tätiger Lehrkräfte hinweg Entscheide fällen. Diese Entscheide werden ihren Alltag bestimmen, nicht aber den Alltag der Funktionäre. Die Rückmeldungskultur, die nicht nur im Lehrplan 21, sondern in der heutigen Arbeitswelt überhaupt einen humanistischen Grundwert darstellt, gilt für Lehrkräfte grundsätzlich nur einseitig. Denn Rückmeldungen von Lehrkräften an Schulleitung, Eltern, Kanton und an Behörden sind nicht vorgesehen. Bildungspolitik und Hochschulen pflegen keinen systematischen Austausch mit der Basis. Der Firmenvergleich, der sonst gerne bemüht wird, zeigt daher Parallelen von Lehrkräften zur untersten Belegschaft eines Unternehmens, bei der das Management zumindest pro forma Rückmeldungen einholt. In der Bildung geschieht nichts dergleichen. Auch zum Lehrermangel findet keine Befragung statt, weder kantonal noch seitens der Arbeitgeber. Die Wirtschaft als Vorbild kennt auch andere Vorgehensweisen, die zur Wahl ständen: Eine besondere Strategie von Google besteht darin, dass das Management regelmässig mit den Ingenieuren an der Basis des Unternehmens spricht und sich von ihnen beraten lässt. Das geschieht auch in Privatschulen nicht.
23. Lehrkräfte können ihre Schulleitung nicht in der Art beurteilen, wie diese sie anweist, Rückmeldungen von der Schülerschaft zu ihrem Unterricht einzufordern und ernst zu nehmen. Das Argument, es könne zu Schwierigkeiten kommen, wenn die Belegschaft ihren Vorgesetzten beurteilt, von dem sie miteingestellt, qualifiziert und nötigenfalls entlassen wird, gilt offensichtlich für Lehrkräfte, nicht aber für die Schülerschaft, die ihre Lehrkräfte, von denen sie beurteilt wird, selbstverständlich qualifizieren soll.
24. Der Lehrermangel beruht darauf, dass auch die verpflichtenden Aktivitäten ausgebaut wurden, die dazu dienen, die Schule als Einheit zu reproduzieren. Sie kommen zum Kerngeschäft und den Kleinmanagements dazu.
25. Der humanistische Grundwert der Kooperation spielt in der heutigen Arbeitswelt sowie im Lehrplan 21 eine wesentliche Rolle. Die Lehrkraft wird u. a. dazu angehalten, die Schülerschaft kooperativ lernen zu lassen. Dieser Grundwert der Kooperation gilt für Lehrkräfte jedoch nur bedingt. Es gibt Schulstandorte, da ist es ihnen untersagt, anlässlich der Stufenkonvente gemeinsam Themen zu präparieren. Hingegen wird ihnen Kooperation vorgeschrieben, in Form kollegialer Hospitation sowie mittels permanenter Teambildung. Kooperation wird Lehrkräften also nicht empfehlend nahegelegt, sondern vorgeschrieben. Diese Teambildung erfolgt im Rahmen des übergeordneten Anspruchs, dass die Schule regelmässig als dynamische Einheit in der lokalen Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Zu den Disziplinen, die für Einheitlichkeit sorgen, gehören Quartalsbriefe an die Elternschaften (Schulleitung), sowie Anlässe in enger Dichte übers Jahr verteilt: Sportanlässe, Adventsanlässe, klassenübergreifende Kleinprojekte, Lager, Exkursionen, Pausenevents, Sonderwochen, bei der ganze Stufen zusammenwirken, sowie Projektwochen vornehmlich gegen Ende des Jahres, an der alle teilnehmen, vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse.
26. Die Schulaufsicht weist die Schulleitungen an, die Zusammenarbeit unter Lehrkräften zu fördern. Im wirtschaftlichen Projektmanagement arbeiten unterschiedliche Fachleute zusammen: Programmierer, Designer, Ingenieure. Lehrkräfte sind Pädagogen ohne vergleichbare Spezialisierung. Dennoch wird ihre Zusammenarbeit für hochdringend befunden. Mitarbeiter eines Wirtschaftsprojekts wirken ausserdem nur auf Zeit zusammen, während die Lehrkräfte einer Schule Jahr für Jahr ihre Teamfähigkeit mit den immer gleichen Leuten zu beweisen haben. Spezialisten reden einander nicht ins Zeug, eben weil sie spezialisiert sind. Das gilt nicht für Lehrkräfte. Es ist normal, dass sie sich in Unterrichtsstil, in der Einstellung zu Disziplinarmassnahmen und in den Ansichten zur individuellen Förderung einzelner Kinder grundsätzlich unterscheiden. Leider sind sie keine «Lehrpersonen» ohne Geschichte und ohne persönliche Werteüberzeugung. Diese Differenzen spielen bei permanenter Zusammenarbeit andauernd mit hinein. Fraglos kommt es zu Spannungen. Lehrkräfte sehen sich infolge permanenter Teambildung ebenso permanent der Gefahr möglicher Konflikte ausgesetzt. Ein alltägliches Nettsein nagt an der Selbstachtung.
27. Bei permanenter Teambildung erbringen Arbeitskräfte die gleichen Leistungen, deren Gehälter sich in höheren Lohnbändern bewegen. Das wird besonders dann brisant, wenn die Schulleitung von einer Lehrkraft die zigfache Überarbeitung eines Einladungsbriefes zu einem schulischen Grossanlass verlangt.
28. In unserer Gesellschaft ist man auch wissenschaftlich auf Nuancen von Autismus wie Asperger aufmerksam geworden, ebenso auf (Hoch-)Sensitivität. Was Kinder und Jugendliche angeht, so wird diese natürliche Eigenart ernst genommen. Man muss bedenken, dass auch unter Lehrkräften leichte Autisten sowie Sensitive vorkommen. Für sie gilt keine Individualisierung. Auch sie haben sich permanenter Teambildung anzupassen. Das Argument, man könne dadurch Synergien bestmöglich nutzen, würde dann greifen, wenn die Lehrkraft ihren besonderen Fähigkeiten gemäss eingesetzt würde. Doch Individualisierung, notabene ein weiterer humanistischer Grundwert des Lehrplans 21, gilt für sie wiederum nur einseitig, indem sie angewiesen wird, beim Unterricht darauf zu achten. Für sie selbst jedoch gilt dieser Wert nicht: Alle haben alles gleich zu leisten. Es steht ausser Frage, dass sie ihren Stärken und Schwächen gemäss zum Einsatz kommen. Kreative Persönlichkeiten unter Lehrkräften haben es schwer, diesen Beruf auszuüben. Verwaltung der Lernstoffe und administrative Tätigkeit haben zugenommen wie überall in der Berufswelt. Kreativität scheint in die Lehrmittel ausgelagert.
29. Landauf landab überbieten sich Primarschulen mit zyklusübergreifenden Events. Zwar gibt es dafür pfannenfertige Angebote einzukaufen. Ganze Zirkusse, die mit schulischen Anlässen ihr Geld verdienen. Auch einzelne Spezialisten bieten Workshops an, die auf die Schule zugeschnitten sind. Sie greifen sogar die nötigen Kompetenzen aus dem Lehrplan auf und vernetzen sie. Das mag die Arbeit der Lehrkraft auf den ersten Blick erleichtern. Der besondere Rahmen dazu gehört gleichwohl organisiert und betreut: Sonderzeiten kommunizieren, Sonderfahrten der Schulbusse, Verköstigung, Betreuung in Leerzeiten, Kommunikation zu den Fachkräften, die man eigens beizieht, Ausnahmeregelungen mit einzelnen Eltern, Gruppenbildung und die Schwierigkeiten regeln, die damit einhergehen.
30. Die Schule als Einheit gehört ins Ressort der Schulleitung. Sie besorgt die Quartalsbriefe und initiiert die nötigen Anlässe. Die Schulleitung vollzieht in erster Linie Beschlüsse der Bildungspolitik via kantonale Ämter. Sie unterstützt Lehrkräfte weder im Kerngeschäft noch in der Bewältigung besagter Mikromanagements. Gerne bringt sie Intervision und Supervision durcheinander, was auch schwierig ist bei dieser flachen Hierarchie, jedoch für Lehrkräfte unangenehm ausfällt. Die Schulleitung bewertet Lehrkräfte auch ohne Erfahrung auf der entsprechenden Stufe. Bereits bei ihr verläuft die Bruchlinie zwischen Lehrerschaft und Bildungspolitik. Ein Team von Lehrkräften wäre in der Lage, eine Schule zu führen. Das Team würde nicht in Einzelkämpfer zerfallen wie früher, sondern lebendig zusammenarbeiten, also ohne Anordnung, wie es unter Lehrkräften z. B. in den 90ern gang und gäbe war.
31. Der Lernzuwachs solcher Anlässe wird nicht gemessen. Ihre schulische Funktion ist also untergeordnet. Es bleibt bei der Organisation, die Kräfte verzehrt, und bei ein paar Rückmeldungen, die man zehn Minuten vor Ende der gemeinsamen Veranstaltung einzieht. Dass die Schule als Einheit auftreten soll, hat sicherlich mit dem Unternehmen als Vorbild zu tun. Dieses Vorbild hält sich hartnäckig, obwohl Fachleute seit Langem das Ansinnen verneinen, man könne Grundsätze der Wirtschaft einfach so auf Schulen übertragen. Dann wäre nach dem Produkt zu fragen, das die Schule als Unternehmen erzeugt. Allerdings untersagt es sich, dass man junge Menschen, die mit einer Handvoll Kompetenzen ausgestattet die Schule verlassen, als Produkt anzusprechen. Auch findet sich in der Wirtschaft kein Unternehmen mit Zwangskunden. Im Übrigen sorgt das Steuerwesen dafür, dass die Einnahmen einer Schule Jahr für Jahr konstant garantiert sind. Die Schule als Unternehmen ist lediglich in der Schichtung in Lehrkräfte als Belegschaft und Schulleitung als Management ersichtlich, was auch lohntechnisch gewährleistet ist, sowie im einheitlichen Auftritt der Schule in der Öffentlichkeit.
32. Lernziele stammen von wirtschaftlichen Projektzielen ab. Ihre operationalisierte Verfasstheit sorgt dort für Sicherheit, da private Gelder im Spiel sind, während Staatsorgane Steuergelder verantworten. Die pädagogische Funktion von Lernzielen liegt nicht sofort auf der Hand, wenn man von der grundsätzlichen Vorbildfunktion der Wirtschaft für die Schule absieht. Die Grundsatzdebatte über Lernziele gilt für längst entschieden. Wer demokratisch gesinnt ist und dem Projekt stetiger Verbesserung durch Kritik und Aufklärung anhängt, ist stets bereit, Grundsätzliches zumindest als Privatperson nach Bedarf in Frage zu stellen. In dieser Art jedenfalls empfiehlt Kant, das Projekt des Fortschritts zu führen. Die Ingenieure des NASA-Apollo-Programms, ebenso die Verantwortlichen der Bildungsreform kannten kein einziges Lernziel. Das gilt genauso für Akteure der Hochkonjunktur sowie für all jene, die bahnbrechende Innovationen zustande brachten. Also sind beachtliche Leistungen ohne Lernziele möglich.
33. Das Kompetenzkonzept und die Lernziele, von denen sie neuerdings abgeleitet sind, bestimmen den Unterricht bis in die Einzelheiten hinein. Lernziele gelten aus pädagogischer Sicht für unverzichtbar, denn sie ermöglichen dem Kind Selbständigkeit im Lernprozess. Genauso gut disziplinieren sie die Arbeit der Lehrkraft im Sinne einer Soft-Governance.
34. An diversen Standorten gilt vonseiten Schulleitung die halböffentliche Anweisung, dass unbedingt ein Lernziel an der Wandtafel zu stehen hat, wenn das Inspektorat oder die Schulaufsicht zu Besuch kommt. Diese Anordnung belegt die These vom Lernziel zur Disziplinierung der Lehrkraft. Denn dass ein Lernziel an einer Wandtafel steht, ist weder notwendig, noch hinreichend für seine pädagogische Funktion. Ähnlich unwürdig verhält es sich bei der halböffentlichen Begründung, man müsse Kollegen offiziell per Mail zum Stufenkonvent einladen, auch wenn ihre Schulzimmer benachbart liegen, weil es sich so gehört. Der pädagogische Wert von Lernzielen ist bei lernstarken Kindern gewährleistet, die mit einer frühreifen Metakognition ausgestattet sind. Solche Kinder aber stellen notorisch die Minderheit. Auf Gymnasialstufe nutzen Absolventen Lernziele lediglich als Orientierung zur kurzfristigen Prüfungsvorbereitung. Die Liste wird in einem temporeichen, virtuosen Management gesichtet und abgehakt, damit Zeit bleibt für Handykontakte.
35. Die Anwendung von Lernzielen auf Primarstufe ist sogar verfehlt, wenn man die Befunde der Entwicklungspsychologie zurate zieht. Diese Wissenschaft stellt klar, dass Kinder erst ab elfjährig halbwegs zur Metakognition in der Lage sind, wobei das Betätigungsfeld ihrer Metakognition gewiss nicht Lernziele sind oder Selbstreflexionen, sondern der Vergleich mit sich selbst und den anderen Kindern. So spricht die Wissenschaft, und man ist demokratisch verpflichtet worden, ernst zu nehmen, was sie sagt. Die meisten Kinder wissen mit Lernzielen nichts anzufangen. Es gibt Kinder, die sie als etwas Störendes auffassen, das ihnen zusätzliche Leistung abverlangt. Das setzt sie erneut unter Stress. Sie begreifen nicht, warum das wichtig sein soll, wenn sie schon die Aufgaben ohne diese Ziele korrekt lösen. Das gleiche Problem unreifer Metakognition stellt sich in diesem Alter bei der Selbstbeurteilung. Standortgespräche sind für die meisten Kinder sehr unangenehm. Allerdings haben sie das Recht, dass nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Damit dieses Recht gewährleistet ist, hat das Kind die Pflicht zur Teilnahme an diesen Gesprächen, die in der Regel sogar mit seiner Selbstbeurteilung starten. Die meisten Kinder zögern, sie stocken, und schon bekommen sie Worte in den Mund gelegt, damit das peinliche Schweigen endet.
36. Beleg zu These 37: Das geschieht vor laufender Kamera in der Dokumentation von Luzius Wespe zum Notendruck bei Kindern: Mein Leben und der Notenschnitt. Doku SRF 1, ab 13:44. Eine Mutter fragt ihre elfjährige Tochter, ob sie einverstanden sei, dass sie sie als gute Lernerin angekreuzt habe. Das Mädchen antwortet nicht, blickt die Mutter hilfesuchend an, worauf die Mutter losprustet, sie müsse sicher nicht sie anschauen. Anschliessend fragt eine Lehrkraft einen Schüler der Mittelstufe, was er noch brauche, um seine Ziele zu erreichen. Seine Antwort: «Proteziar». Und er drückt sich herum, da er genau weiss, dass er das, was er sagen möchte, völlig falsch ausspricht. Eigentlich meint er «Potenzial», wie sich herausstellt. Aber was er genau machen müsse, spitzt die Lehrerin ihre Frage nach, und sie ergänzt, wohl zu den Eltern gewandt, der Junge meine einfach nur das, worüber sie schon immer miteinander gesprochen hätten.
37. Diese Diskrepanzen zwischen bildungspolitischen Ansprüchen und entwicklungspsychologischen Befunden punkto Lernzielmanagement und Selbstreflexion auf Primarstufe auszuhalten, fällt einer kritischen Lehrkraft unsäglich schwer. Das zehrt an ihrer Selbstachtung. Auch diese Widersprüche stützen die These von der Disziplinierung der Lehrkraft durch die Einführung von Lernzielen.
38. Die mutmasslichen Gründe zum Lehrermangel auf Primarstufe, die hier thematisiert werden, kommen in der Öffentlichkeit untergeordnet oder gar nicht zur Sprache: Man darf insgesamt einen systemisch bedingten Missstand behaupten: Lehrkräfte haben ein ausgebautes Kerngeschäft grösstenteils nach wie vor im Alleingang zu bewältigen und zu verantworten. Sie werden mit Mikromanagement überlastet und Kritik aus diversen Quellen ausgeliefert, wobei ihre eigene Kritik nirgendwo eine systematische Wertschätzung erfährt. Die humanistischen Grundwerte der Bildungsreform (Kooperation, Rückmeldungskultur und Individualisierung) gelten für sie nur einseitig: Als Pflicht, aber nicht als Recht. Lehrkräfte haben mittels permanenter Teambildung ihren Beitrag zu leisten, dass die Schule regelmässig als dynamische Einheit auftritt. Lernziele sind pädagogisch nicht zwingend notwendig. Sie disziplinieren unter anderem die Arbeit der Lehrkraft. Grob gefasst könnte man beanstanden, Lehrkräfte hätten nur noch Lernstrukturen zu verwalten.
39. Ein wichtiges Anliegen vergangener Bildungsreformen ist im Auge zu behalten: Die selbstherrliche Autorität früherer Lehrkräfte als Einzelgänger gehört gestutzt, aber wie weit soll das gehen? Die damalige unzumutbare Situation hat sich in ihr Gegenteil verkehrt: Nun bestreiten Primarlehrkräfte überlastet, ungehört und ungeschützt einen hektischen Arbeitsalltag. In dieser Situation wissen manche sich nur zu helfen, indem sie sich durch Teilzeitarbeit entlasten oder den Dienst quittieren.
Kommentar verfassen