Das Böse an sich halte ich für ein Missverständnis.
Letzthin fragte mich eine Schülerin, ob ich an den Teufel glaube. Ich schüttelte den Kopf, lachte sogar. Sie blieb ernst, denn sie stammte aus einer bibelkundigen Familie. Und dank ihrer Skepsis geriet ich ins Stutzen, wie leicht ich diesen Glauben verwarf. Tatsächlich könnte ich mir so etwas wie Gott vorstellen, wenn auch nur unter Inkaufnahme erheblicher Schwierigkeiten beim Nachdenken über die Welt. Den Glauben an den Teufel jedoch als an eine Macht, die vom Wesen her schlechthin böse sein soll, halte ich für blauäugig. Auch ein befreundeter Geistlicher beklagte bei einem bestimmten Thema das Treiben des Durcheinanderwerfers, des Diabaleins, also des Teufels. Nun begriff ich, dass man sehr wohl an den Teufel glauben muss, wenn man ein echter Christ sein möchte. Das dürfte wenigen geläufig sein. Das Christentum meiner Generation kennt kaum das Glaubensbekenntnis. Im Religionsunterricht sangen wir Lieder aus Afrika, plauderten über Aids und Waldsterben.
Ein echter Christ glaubt also daran, dass es den Teufel als schlechthin Böses gibt. Ausserdem gilt, dass dieser Urbösling nicht einfach nur im Verborgenen lauert, sondern zielstrebig die Schöpfung Gottes verdirbt. Das macht er rund um die Uhr. Als ehemaliger Engel sollte ihm das keine Mühe bereiten. Daher sieht sich ein echter Christ dazu aufgerufen, dass er dagegen antritt, und zwar mit dem gleichen Engagement. Ausserdem wirkt ein echter Christ so auf andere ein, dass sie es ihm gleichtun. Wer sich nicht überzeugen lässt, trägt dazu bei, dass sich das Reich des Teufels nach Kopfzahl vergrössert.
Leider kann ich damit nichts anfangen. Daher bin ich auch nicht in der Lage, in irgend einer Form auf Satanismus anzusprechen. Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellte, dass eben dieser christliche Teufelsglaube das Missionieren erklärt, wofür das Christentum berüchtigt ist, sowie die schrecklichen Dafés vor Jahrhunderten, als man Seelen durch Feuer reinigte, von denen es hiess, sie seien sonst an den Teufel verloren. Eine Totalvernichtung. Unter grauenhaften Schmerzen. Der eigentliche Holocaust, zumindest dem Wortlaut nach.
Es findet also ein Wettstreit zwischen Gut und Böse statt. Diese Überzeugung teilen auch andere Bekenntnisse. Aber es gibt Besonderheiten: Hindus zum Beispiel missionieren nicht. Bei ihnen pflegen das Gute und das Böse eine Partnerschaft in völliger Selbstverständlichkeit. Wie alles, was aus ihrer Sicht zum kosmischen Ganzen gehört. Shiva, der Vernichter, gehört zur Ordnung der Hindu-Götter wie alle anderen, ebenso Kali als Personifizierung seiner Kraft, trotz blutroter Zunge und abgeschlagenen Menschenköpfen um den Hals. Diese Ordnung leuchtet mir eher ein, wenn es darum geht, die Wirklichkeit damit zu klären. Goethe als schlechter Christ hat die Zusammenarbeit von Gut und Böse erkannt, indem er Mephisto von sich selbst sagen lässt, er sei die Kraft, die durch ihr Wirken «stets das Gute» schaffe, indem er das Böse wolle. Eine bestimmte christliche Sicht deutet in eine ähnliche Richtung, indem gesagt wird, das Böse sei ein ursprünglich Gutes, das irregeleitet worden sei. Das muss der Fall sein, schliesslich soll Gott auch Satanael erschaffen haben. Dennoch kenne ich alltagstaugliche Menschen, die sicher sind, dass irgendwo da draussen in der Welt etwas lauert, das von Grund auf böse ist. Ihre Überzeugung erinnert an die jüdische Gewohnheit, dass man jederzeit, also rund um die Uhr denjenigen erwartet, der stärker und klüger ist als man selbst. Diese Macht wird dann verfahren, wie es ihr passt, ob gut oder böse. Diese Leute sind sich genauso sicher, es gebe irgendwo etwas, das durch und durch böse ist, wie ich mir über ihre Naivität sicher bin. Und das beruht auf Gegenseitigkeit. Sie halten umgekehrt mich für blauäugig, wenn ich das durchwegs Böse als Missverständnis einschätze. Aus ihrer Sicht fehlt mir der Bezug zu einem wirklich harten Leben. Zum richtigen Leben somit.
Aber das ändert nichts daran, dass ich das absolut Böse für ein Missverstädnis halte.
Wie soll das gehen? Zunächst ein Blick auf die Natur: Der böse Jäger, der böse Schädling, der böse Parasit. Das Böse hat dort immer mit Selbsterhalt und Fortpflanzung zu tun. Also mit dem Leben an sich: Wenn der eine Organismus den anderen verspeist, wenn Stämme oder Schwärme ganze Fressgründe plündern und andere daraus verdrängen oder sie gleich ausrotten, ergibt sich das Böse in der Natur aus ungleich verteilten Ressourcen sowie aus ihrer eigentümlichen Ökonomie, dass für Ernährung anderes Leben herhält, das sich seinerseits ernährt, statt dass Nahrung als eine Art Schaum zur Verfügung stände, ähnlich wie Wasser zum Trinken, das selber keine Interessen verfolgt. Pfützen von Nahrung, die nähren, ohne lebendig zu sein. Wenn ein Tier die Zähne fletscht, einen zornigen Blick auflegt und die Krallen ausfährt, drückt das nur bedingt seinen Willen aus, etwas Feindliches zu vernichten. Es ist immer die Bereitschaft zur Verteidigung. Im Angriff wäre dies Verschwendung von Energie. Das Tier unterbreitet dem Gegner eine Auslegeordnung seiner Mittel, damit er sie in Rechnung stellt, sollte er tatsächlich angreifen wollen. Was könnte daran böse sein?
Der Wille zur Vernichtung fremder Interessen bedeutet keine Bosheit schlechthin, die nur zerstören möchte, sondern geschieht aus Sorge um Selbsterhalt und Fortbestand, nötigenfalls um jeden Preis bis zuletzt.
Wenn man dieses Missverständnis auf das Verhalten unter Menschen anwendet, ändert sich nichts daran. Das anzuerkennen fällt enorm schwer. Die Neurobiologie bestätigt: Bei einem Übergriff sind Muster der Gehirnaktivität beteiligt, die sonst auftreten, wenn die Person sich verteidigt. Das Böse kommt da zur Welt, so die gängige Überzeugung, wo jemand seine Freiheit zuungunsten anderer einsetzt. Daher fürchten wir die Freiheit Anderer. Vielleicht liegt es umgekehrt an der Unfreiheit der Menschen, die sie zum Schaden Anderer über ihren angestammten Spielraum hinauszwingt. Man kann Cäsars Würfelwurf als Beleg dafür nehmen, dass hier jemandem nur die Flucht nach vorn übrigbleibt.
Was sollen wir fürchten? Die Freiheit Anderer oder ihre Unfreiheit?
Man sollte das Sinnbild der Nahrung nicht überanstrengen. Das Böse liegt aus unserer Sicht auch in einer bestimmten Überzeugung. Man könnte sagen, wir verdauten Eindrücke und Erfahrungen zu einer bestimmten Theorie über Gott und die Welt. Gehirn und Darm sind auffallend ähnlich: Beides sind gefaltete Organe. So gibt es auch Stoffwechselprodukte für die kulturelle Evolution: Überzeugungen, Meinungen, ganze Weltbilder. Religiöse Bekenntnisse, wissenschaftliche Menschenbilder, politische Ideologien. Dadurch nähren wir ein Selbstbewusstsein, besser aber ein Bewusstsein für ein bestimmtes Gemeinwesen, das uns überleben hilft, indem es die gleiche Überzeugung teilt. Aber auch Überzeugungen sind sich spinnefeind. Auch hier herrscht eine Feindschaft, wo man sich gegenseitig munter verteufelt. Bei einer Überzeugung geht es weniger um Fressgründe, die wir plündern oder bissig verteidigen, sondern darum, dass ihr Geltungsbereich ähnlich dem Reich des Teufels möglichst beschnitten wird, damit die eigene Überzeugung sich durchsetzt: Der Materialist beschämt den Spiritualisten, Katholiken die Protestanten, Sozialisten die Liberalisten, Geisteswissenschaftler die Naturwissenschaftler, was jeweils auch umgekehrt zutrifft. Beispiele kulturellen Hasses gibt es genug: Unter Nationen, überwiegend früher, sofern es Europa betrifft, im Bereiche der Künste, wo man sich gegenseitig zerpflückt. Buddhisten lassen Muslime aushungern, Mönche vielfältiger Abkunft prügeln sich in der Grabeskirche mit Kerzenständern.
Unter kulturellen Strömungen ein teuflisch Böses zu verorten, das absolut wäre, untersagt sich von selbst, wenn man sich vor Augen führt, dass auf allen Seiten der Konflikte das gleiche Leben wirksam ist.
Das gleiche Leben aus der gleichen Welt.
Oftmals trifft es zu, dass das, was wir in unserer beschränkten Sicht auf das Leben für böse halten, längerfristig betrachtet als schöpferische Zerstörung wirkt. Gerade im Anschluss an Kriege. Besser wäre von zerstörerischer Schöpfung die Rede.
So will es das Leben.
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