Im Netz fiel jemandem auf, dass es seit Längerem in Wissenschaft und Gesellschaft zu keiner bahnbrechenden Neuerung mehr gekommen sei. Woran liegt das? Der möglichen Antworten sind viele. Mein Beitrag: Das Problem liegt an übermässiger Normierung. Sie würgt Neues vorweg ab. Zur Normierung gehört unter anderem permanente Zusammenarbeit in Teams. Eigenbrötlerei gilt heute für verdächtig. Dabei haben früher vor allem Aussenseiter bahnbrechende Neuerungen hervorgebracht.

Zuviel Normierung, zuviel Regulierung: Moongirl bietet einen Kurs zu Stimmtherapie an einer Pädagogischen Hochschule an. Mehrere Seiten Bürokratie sind erst zu bewältigen. Das ist gerecht und zweckmässig, sorgt für Transparenz, verhindert Missverständnisse. Aber es dämpft auch das Engagement, etwas Besonderes hinzubekommen. Lieber begibt man sich auf die sichere Seite, damit entspannte Abende und ungestörtes Schlafen garantiert sind. Neues kommt so nicht zustande. Dafür wird Wohlnormiertes zum wiederholten Mal aufgewärmt. Jede Norm hat Gründe, die triftig sind. Normen halten Risiken in Schach.

Aber eine Gesellschaft, die keine Risiken eingeht, verändert sich nicht. Früher oder später wird sie verändert.

Zu diesen Normen zählen neuerdings auch Algorithmen. Mit globaler Reichweite besorgen sie unter uns eine Gleichschaltung, ein Zusammenzug atomisierter Vielfalt, wie er immer wieder im Leben vorkommt. Bahnbrechende Neuerungen bleiben aus. Trotz Digitalisierung und weltweiter Vernetzung. Dabei sind das Werkzeuge, die ungeahnte Möglichkeiten bieten. Zum Beispiel beschleunigen sie Recherche und einen Austausch, der nötigenfalls innert Augenblicken um den Erdball zwitschert.

Aber inhaltlich geschieht wenig.

Im Bereich Bildung habe ich mich schon immer über die Aufregung gewundert, die um Computerisierung und Digitalisierung veranstaltet wird. Um blosse Werkzeuge somit. Man bedenke, die Ingenieure des Apollo-Programms hatten in der Schule noch auf Schiefertafeln gekritzelt. Eine Plattform wurde prämiert, die den heimatkundlichen Unterricht auf Stufe Gemeinde zur Verfügung stellt und dabei neuste Ansprüche befriedigt. Die Kinder fotografieren, drehen kleine Filme, nutzen diverse Applikationen, spielen Memory, indem sie mit dem Finger auf dem Bildschirm herumtappen, nehmen Geräusche auf, verfassen kleine Blogs. Inhaltlich wird das Ganze als alter Wein in neuen Schläuchen serviert: Es geht um die Berufe in der Gemeinde, um das Dorfwappen, die Kirche, die häufigsten Pflanzen, die Flurnamen, um Fachwerkhäuser aus verschiedenen Epochen, um Nutztiere und Haustiere, um örtliche Vereine.

Die Norm der permanenten Teambildung hat wie jede Regulierung sachliche Bewandtnis: Die Spezialisierungen haben sich immer feiner ausgefächert. Darunter leidet die Verständigung. Angeblich können Kernphysiker und Teilchenphysiker einander fast nicht mehr verstehen. Der Ruf nach Interdisziplinarität erschallt gerade jetzt, da sie zunehmend schwieriger wird. Umso mehr wird Eigenbrötlerei unter Verdacht gestellt. Der Stuttgarter Psychotherapeut Werner Geist stellte vor Jahren im Alleingang, sozusagen aus dem Lehnstuhl heraus, eine Gesamtphilosophie vor, die er «Analytische Hominologie» nannte. Damit argumentierte er äusserst genau für die Sonderstellung des Menschen innerhalb der Natur. Sein Interesse hatte aussertheoretische Bewandtnis, indem er Patienten behandelte, die an der Abwertung des Menschen durch den gängigen Evolutionismus litten. Eine Art frühe Pegida-Klientel. Das machte ihn angreifbar. Das Anliegen, das jemanden bewegt, ist jedoch unerheblich, wenn man den Blick ausschliesslich auf die Argumente richtet, zu denen jemand findet. Auch stellte Werner Geist eine vollständige Nomenklatur vor. Im Alleingang! Das muss wissenschaftsintern auf Ablehnung stossen, wenn man bedenkt, dass man ganze Tagungen veranstaltet, damit man sich auf eine besondere Begrifflichkeit einigen kann. Unabhängig davon ginge es aber um die Argumente, die der Autor vorbringt. Ob diese im Alleingang zustande kommen, oder nach Schlussredaktion einer Teamarbeit, spielt eigentlich keine Rolle. Die Vorurteile waren zu hoch, um den Stuttgarter auch nur zu Gehör zu bringen.

Es fällt auf, dass zeitgleich, da die Norm der Teambildung fast überall gilt, die Gesellschaft immer eigenbrötlerischer wird. Nicht nur bestimmte Jugendliche verbringen ihre Freizeit vor dem Bildschirm. Neuerdings gibt es Leute, die überhaupt keine Freundschaften pflegen. In einem esoterischen Text aus dem Umfeld der Anthroposophie erzählt der Hausgeist einer Mühle, die Menschen seien früher wie Wälder gewesen, ohne Glanz in den Augen. Nun seien sie zu Bäumen geworden, aber ihre Augen leuchteten. Wenn man diesem Zeugnis Glauben schenkt, gilt Eigenbrötlerei als Fortschritt.

Als Eigenbrötler schlechthin hatte Ludwig Wittgenstein mit seinem Frühwerk den logischen Empirismus und damit die analytische Philosophie im angelsächsischen Raum massgeblich beeinflusst, die noch heute praktiziert wird. Dazu benötigte er einen Tisch, Bücher, Papier und Bleistift. Sein «Logisch-philosophisches Traktat» würde heute unmöglich als Dissertation anerkannt, der formalen Ansprüche wegen. Eine dünne Jahrundertschrift, die nicht in kreativen Nischen oder in ausgepolsterten Kokons verfasst wurde, wie sie heute bei Google üblich sind, sondern während des Ersten Weltkrieges an der Ostfront sozusagen im Schützengraben. Auch wegen der Vorschriften punkto Verhalten bliebe Wittgenstein heutigen Universitätsbetrieben angewidert fern. Auch sein Spätwerk entstand in einer Abgeschiedenheit, an der er auch in Cambridge festhielt. Sein Spätwerk gilt als richtungsweisend für die Philosophie der Postmoderne. Carl von Linné, der die Grundlagen zur modernen biologischen Taxonomie legte, gehört eindeutig in die Sammlung innovativer Eigenbrötler. Marie Curie wirkte in enger Zusammenarbeit mit ihrem Gatten über viele Jahre. Ein Umstand, der heute beargwöhnt würde. Diese im Vergleich zu heute sonderbar abgeschottete Zusammenarbeit unter Marie Curies Federführung brachte ihr wenigstens zwei Nobelpreise ein. Man darf davon ausgehen, dass ein Nikola Tesla, ein Alain Turing und Andere, dass Watson und Crick bei ihrer Entdeckung der DNA-Doppelhelix wenig Normierung abzuleisten hatten, wie Teamarbeit mitsamt dem Wust an Formalitäten, der daran hängt. Anforderungen, die Politik und Verwaltung als dringend vorschreiben. Watson und Crick sollen sich in ihrem Entdeckungseifer derart benommen haben, dass man jedes Team vor ihnen verschonte und sie in andere Räume verbannte.

Das Hauptargument für die neue Eigenbrötlerei liefert einmal mehr Albert Einstein. Seine Relativitätstheorie, das Beispiel für bahnbrechende Neuerung schlechthin, entstand beinah im Alleingang und abseits jeder universitären Einbindung während seiner Arbeit als Patentgutachter in Bern. Keine permanenten Formalitäten, keine permanente Teambildung, kein Verhaltenskodex unter sozialem und bürokratischem Druck, der inständig vom Wesentlichen ablenkt. Wesentlich gemessen daran, dass man eine bahnbrechende Neuerung hinbekommt. Keine Algorithmen, keine Vernetzung mit Lichtgeschwindigkeit, auch hier nur Tisch, Papier und Bleistift.

Am Rathausplatz von Stein am Rhein prangt an einer Fassade Diogenes in der Tonne. Der Idealtyp des Eigenbrötlers. Bei meinem täglichen Gang zur Arbeit entfaltet sein Bild für mich eine neue ikonenhafte Wirkung.