Heute ist es leicht zu provozieren. Die politische Korrektheit hat Fallstricke feinmaschig ausgelegt. Damit schafft sie ungewollt zahllose Gelegenheiten zur Provokation. Nur ein falsches Wort, und schon brandet Empörung heran. Wer Aufmerksamkeit nötig hat, der bediene sich. In Diktaturen sind Provokationen unverzichtbar. Das heisst aber noch nicht, dass sie demokratisch sind. Sie sind es nicht.
Früher brauchte es Mut zu provozieren. Die sozialen Risiken waren beträchtlich. Wer sich ein Geweih ins Kreuz stechen liess, galt als Schande für die Familie, er verspielte unter Umständen sein Erbe. Jim Morrison musste immerhin noch den geöffneten Hosenladen in die Scheinwerfer halten. Es ist allerdings umstritten geblieben, ob es sich so zugetragen hat. Sicher aber sang er vom Mord am Vater und vom Beischlaf mit der Mutter, womit er eine ganze Öffentlichkeit gegen sich aufbrachte. Streng genommen zitierte er dabei nur aus einem Handbuch zur Psychoanalyse. Im Rahmen der so genannten Uni-Ferkelei 1968 an der Wiener Universität zogen sich Aktionskünstler aus, sie peitschten sich, masturbierten und verrichteten ihre Notdurft. Drastische Vorgehensweisen, die davon lebten, dass eine beachtliche Mehrheit sich daran stören würde. Die Empörung war berechenbar gewesen. Wer heute seine Fingernägel bunt bemalt oder das Gesicht metrosexuell aufhübscht, weiss gut die Hälfte der Öffentlichkeit schon hinter sich. Blech im Gesicht stört am Arbeitsplatz kaum jemanden mehr. Die Empörten stellen heute eher eine Minderheit. Folglich ist Provokation kein politisches Wagnis mehr, auch wenn die Ablehnung sich erneut verschärft hat. Bei Provokationen heisst es oft lapidar, diese Leute holten sich einfach nur Aufmerksamkeit. Die Beweggründe, eine Öffentlichkeit so treffsicher zu reizen, sind bekanntlich verschieden. Manche haben mit unserer Hochleistungsgesellschaft eine Rechnung offen. Sie nutzen die Gelegenheit zu persönlicher Genugtuung, würden das aber nicht unbedingt zugeben. Und auch wenn jemand nur Aufmerksamkeit erzwingt, sozusagen aus Notdurft seines unerkannten und ungehörten Lebens, lässt er sich doch politisch einspannen. Welcher Beweggrund dann zur Provokation Anlass gibt, weiss nur die Person selbst, die sie durchführt. Abgesehen davon ist das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit allen uns Menschen angeboren. Vieles, was Menschen tun, könnte man unter diesem Vorzeichen abwerten, auch das beste soziale Engagement.
Die Überzeugung, Provokateuren ginge es nur um Aufmerksamkeit, dürfte ihrer Selbstachtung zuwiderlaufen. Also darf man ihnen ein politisches Anliegen unterstellen: Mit ihrem Vorgehen wollen sie die Gesellschaft verbessern. Wer provoziert, möchte etwas bewirken. Schlimm wäre Gleichgültigkeit. Schlimmer noch der dankbare Applaus der Gegner, diese oder jene Provokation, die sich gegen sie richtet, würde sie umso mehr zusammenschweissen. Die Provokation schadete ihnen nicht. Im Gegenteil. Erst durch die Provokation würden sich die Zögerlichen unter ihnen radikalisieren. Also träte das genaue Gegenteil vom dem ein, was die Provokation bewirken möchte. Extremisten müssten sich eigentlich bei Provokateuren bedanken: Mehr Karikaturen bitte, mehr Beleidigung im öffentlichen Raum, das stärkt unsere Einheit, macht uns noch angriffslustiger. Aber die Leute sind offensichtlich ausserstande zu dieser souveränen Art, wie man Provokationen ins Leere laufen lässt. Sie spielen mit, indem sie sich entrüsten. An ihrer Empörung bemisst sich ihre Sorge, wie sehr sie bedroht sehen, was ihnen am Herzen liegt. Ob diese Bedrohung auch tatsächlich zutrifft, entscheiden aber nicht sie allein. Wer zwei Polizisten inszeniert, die sich auf den Mund küssen, macht auf einen Missstand aufmerksam, nämlich die Missachtung, früher sogar Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Ein Recht wird eingefordert, das bisher übersehen oder verneint wurde. Wer entrüstet darauf erwidert, verkennt die Selbstverteidigung, die darin liegt. Aber das beruht darauf, dass die aufgebrachte Person sich ihrerseits bedroht fühlt. Provokationen verstärken Ängste, verhärten die Fronten, statt sie aufzuweichen. Sie führen zu keinem gegenseitigen Einvernehmen, sondern festigen Feindschaften.
Also stellt Provokation aus politischer Sicht ein irrationales Vorgehen dar. Das heisst, sie bewirkt, dass das Anliegen, aus dem sie geschieht, ausgerechnet dadurch untergraben wird.
Und vor allem: Provokation ist undemokratisch. Sie bittet nicht um Gehör, sondern knallt ihre Botschaft allen vor den Latz, reibt sie ihnen unter die Nase. Sie lauert auf und springt hervor. Um es genau zu benennen:
Provokation diktiert ihre Botschaft.
Also passt sie notwendig in Verhältnisse von Diktaturen, wo sie für bedrängte Minderheiten zwar gefährlich, aber überlebenswichtig sein kann, indem sie anderen Mut macht. Das Diktatorische an Provokationen liegt auch darin, dass sie für die Deutung ihrer Botschaft keinen Spielraum lässt. Dem Gegner wird ein passgenaues Verhalten abverlangt, nämlich dass er ein bestimmtes Anliegen abstrichlos anerkennt, das er zuvor abstrichlos verteufelt hat.
Da wären doch Zwischenschritte nötig.
Es heisst dann oft, es liege an der Sturheit der Gegner, die einem keine Wahl lasse. Ihre überhebliche Verstocktheit gehöre aufgebrochen, aufgeweicht. Sie gehört zumindest beschämt. Ein Ausgleich muss her. Bekanntlich lässt sich Sturheit auch Provokateuren attestieren. Hüben wie drüben die gleiche Borniertheit. Also ist es höchste Zeit für eine demokratische Kritik an Provokation:
Sofern ich demokratisch gesinnt bin, anerkenne ich alle, die daran mitwirken, dass ein Mehrheitsentscheid zustande kommt, als gleichberechtigt, auch wenn sie andere Interessen vertreten. Wir anerkennen uns als Beiträger zu einem Mehrheitsentscheid, der das Zusammenleben sicher macht. Also anerkenne ich die Meinungsfreiheit aller, die Verfassung nötigt mich sogar dazu. Auch anerkenne ich, dass es keine Vorschriften gibt, wie locker oder wie stur jemand sein Interesse verficht. Ebenso nehme ich die Tatsache hin, dass sich ein politisches Anliegen, sobald ich es unterstütze, natürlicherweise gegen andere Anliegen richtet. Der Konflikt ist vorgezeichnet, das lässt sich nicht beschönigen. Demokratie erfordert Streitkultur. Provokation ist ein schlechtes Mittel dazu, aus den genannten Gründen. Die Mittel, die wir dazu nutzen, sind folgerichtig demokratisch, so bieder das klingen mag: Man reicht Vorstösse ein, kontaktiert Kommissionsmitglieder, sammelt Unterschriften, tritt Parteien oder Verbänden bei, stellt sich zur Wahl für ein politisches Mandat, schreibt Leserbriefe, leistet Überzeugungsarbeit mit Argumenten, schlägt Kompromisse vor. Wenn daraus nichts wird, gilt die Einsicht, dass es für das eigene Anliegen offensichtlich nicht die Zeit ist.
Auf der Grundlage der Anerkennung, dass alle bei abweichenden Interessen an demokratischen Prozessen teilnehmen, darf man ruhig auch Rücksicht auf die kulturellen Empfindlichkeiten der Gegner einfordern.
Provokation verweigert diese Anerkennung. Politisch ist sie irrational. Man würdige sie hingegen als kreatives Geschäft, als Kunstform.
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