Der hat seine Chance gehabt! Das hört man oft in einer Entschiedenheit, die Eindruck macht. Besonders Erzieher reden so. Erst üben sie milde Nachsicht ihrem Zögling, geben sich kameradschaftlich. Im Wiederholungsfall aber schlagen sie hart zu. Weitere Chancen stehen ausser Frage. Gewiss nehmen sie an, dass sie so vorbildhaft Werte durchsetzen, die für das gesellschaftliche Zusammenleben unverzichtbar sind. Dabei ist es reine Willkür. Strenggenommen benehmen sich diese Leute wie Gott. Vor allem aber ist ihr Verhalten unsportlich.

Die Sache mit der einen Chance, die einem zusteht, sorgt auch für Dramen auf dem Sterbebett, wenn man auf sein Leben Rückschau hält. Ebenso gibt es Menschen, die daran festhalten, sie hätten ihre Chance vertan. Auch gutes Zureden lässt sie nicht davon abbringen. Irgendwann bleibt der Eindruck haften, sie schützten sich so vor weiterem Versagen. Das wäre ihr gutes Recht. Ihr stures Benehmen macht intim ökonomisch Sinn. Das ändert nichts daran, dass auch in diesem Fall die Überzeugung von der einen Chance blosse Willkür bedeutet.

Auch der Herr im Himmel gesteht seinen ersten Menschen nur eine Chance zu. Damit hat er vom Grundsatz her jene schon zum Voraus verurteilt, die diese eine Chance in den Sand setzen. Bei Gott dürfte die Willkür dabei passend erscheinen. Nach jüdischer Auffassung steht ihm alles frei, einfach deshalb, weil es Gott ist. Aber warum nicht zwei.Chancen? (Gerade WEIL ihm alles frei steht). Warum nicht drei? Oder mehr? Theologen vermelden klare Gründe: Die Gefahr bestand, dass die Menschen auch vom zweiten Baum, dem der Unsterblichkeit essen würden. Ein seltsames Spiel: Gott erschafft seine Geschöpfe als verführbar. Eigentlich bemerkenswert, dass eine vollkommene Instanz Lebensformen erschafft, die unvollkommen sind. Gott in seiner Vollkommenheit setzt sein unvollkommenes Geschöpf in ein Umfeld voller Versuchung, er weckt diese Schwäche noch, indem er Verbote ausspricht, was die Sache für dieses Geschöpf kraft seiner Unvollkommenheit sogar reizvoller macht, wobei er dann, wenn es versagt, was notwendig folgen muss, nur eine Chance gelten lässt.

Bei der Sache mit der einen Chance geht es auch um Druckaufbau.

Schon immer hat man Lügen aufgetischt, damit die Leute in die Spur kommen. Auch sollen sie darin verbleiben. Das Konzept der ewigen Verdammnis zum Beispiel. Man bekommt ein Leben zugesprochen, also eine Chance, wofür auch Dankbarkeit erwartet wird, um das göttliche Urteil am Ende aller Zeiten zu bestehen. Anders, wer an die Wiedergeburt glaubt: Dieser Lehre nach bekommen wir in all den Leben, die wir durchlaufen, für jede erdenkliche Prüfung Chancen solange zugespielt, bis wir sie packen.

Genauso beim Sport, einem beliebten Vorbild der Hochleistungsversorgungsgesellschaft. Offensichtlich fällt kaum auf, dass der Sport auch punkto Vergabe von Chancen beispielhaft sein könnte. Die einzige, letzte Chance lernen Sportler erst am Ende ihrer Karriere kennen. Vorher beschränkte sich dieses Drama auf ein bestimmtes Turnier, das man vielleicht verbockt hat, aber der nächste Wettbewerb, die nächste Chance somit, steht im Verlaufe eines Sportlerlebens immer vor der Tür. Sportler trainieren auf den Wettbewerb hin, sie begehen zahllose Fehler, sie erhalten Unterstützung in Echtzeit. Auch lassen sie sich die nötige Zeit, damit gewisse Prozesse immer mehr von selbst ablaufen. In der alltäglichen Lebenswelt geht das viel strenger zu und her: Die Übungsmöglichkeiten sind dünn gesät. Beliebig langes Trainieren ist keines vorgesehen, die tiefe Fehlertoleranz unserer Gesellschaft unterstellt am besten jede Situation dem Wettbewerb. Für mehrere Chancen fehlt es an Zeit und an der nötigen Geduld. Für Menschen, die sich täglich anstrengen, kommt erschwerend dazu, dass es für diese Wettbewerbe keine Spielfelder gibt oder sonstwie kalibrierte Umstände wie beim Sport, die Messbarkeit und damit Lauterkeit im Wettbewerb garantieren. Trotz der vielen Tabellen und Formulare, die in der liberalisierten Arbeitswelt üblich geworden sind, bleiben wir Unschärfen und Zufälligkeiten ausgeliefert.

Und das bei nur einer Chance!

Wer solche Wettbewerbe anreizt, hält es für richtig, dass uns nur eine Chance zusteht, denn bei jeder Ausscheidung gibt es Kandidaten, die sie packen oder denen es zufällig gelingt. Eine libertäre Argumentation, bei der man wie immer von einer Flexibilität aller Teilnehmer ausgeht, die illusorisch ist. Jedenfalls lässt sie sich unmöglich auf die Mehrheit anwenden.

Wie auch immer. Fest steht: Wo es nur eine Chance gibt, herrschen Willkür und vor allem eine unsportliche Gesinnung.