Tieren in die Augen sehen, das liebe ich seit Langem. Ob Reptil oder Säugetier: Der Blick des Tieres ist immer der gleiche. Es ist ein Gleichmut darin, den ich bei Menschen vermisse. Aber ich bin sicher, er liesse sich auch bei uns finden.

Was ich mit Gleichmut im tierischen Blick meine, blieb mir lange Zeit unklar, bis ich in einer Dokumentation genau mitbekam, wie ein Gepard eine Gazelle erlegt. Der Jäger verharrt nach dem ersten Biss aus Erschöpfung, sodass beide Blicke zu betrachten sind, der Blick des Opfers sowie seines Jägers. Keine Aggression aufseiten des Täters, sie wäre unnötigerweise kräftezehrend. Das zähnefletschende Monster ist ein Beispiel für Verteidigung in der Natur. Beim Angriff verzieht der Jäger keine Mimik, gleichmütig eben. Aber auch keine Verzweiflung im Blick der Gazelle, die sich zwar freizukämpfen sucht, jedoch den Eindruck erweckt, als wäre sie in ihr Schicksal ergeben. Wie bei Tieren üblich vergleicht sie ihren plötzlich veränderten Zustand mit keinem früheren Wohlbefinden, wie wir Menschen es tun, sodass sich unser Leiden erheblich verstärkt. Das Tier verhält sich panisch im Moment, aber es ist längerfristig ausserstande zu Trauma und Psychose. Es sei denn, man hält es in einer Gefangenschaft, die keine Rücksicht nimmt auf seine Natürlichkeit. Der Gleichmut im Blick des Tieres geht mir als eine Art Botschaft des Lebens auf, das so zu mir sprechen könnte:

Siehst du, ich bin beides: Opfer und Täter in einem. Jederzeit.

Dies zu erkennen, macht den Gleichmut aus, den ich meine. Plündert ein Polarfuchs das Nest von Schneegänsen, mag das traurig stimmen. Eine gefühlsduselige Sichtweise, die dem Leben nicht gerecht wird. Bei dieser Plünderung gehen zwar für die Gänse viel verloren, wenn nicht alles, für das Leben selbst jedoch nichts.

Jede Tötung, jede Plünderung, um sich zu nähren, bedeutet für das Leben keinen Verlust, sondern eine Umlagerung von Energie.

Der menschliche Blick wird von einer Mimik umspielt, die andauernd davon ablenkt, wenn man diesen Gleichmut darin entdecken will. Diese Mimik kennzeichnet uns als Art. Vielleicht sind wir die aufgescheuchte Natur schlechthin. Geschuldet der Eigenschaft, die uns sonst zugutekommt, nämlich dass wir die Dinge anhand ihrer Unterschiede und Gemeinsamkeiten vergleichen. Das leistet auch das Tier im Augenblick, wir aber erinnern uns beständig daran, behalten diese Vergleiche in Kopf und Herz. Sie bescheren uns ein gesundes Selbstbewusstsein, das sich an Erfolge erinnert. Ebenso lässt es Menschen in Düsternis erstarren.

Das Leben will, dass wir uns erinnern.

Sonst hätte es keinen solchen Aufwand betrieben, damit seine eigene Intelligenz unter Bedingungen des Menschseins zur Welt gebracht wird. Dieser Gleichmut entgeht uns. Die Erkenntnis, das Leben sei jederzeit beides, Opfer und Täter in einem, besänftigt uns nicht. Zwar fressen wir uns nicht, daran hindert uns ein schwergewichtiges Tabu. Aber wir bekämpfen uns, sofern nötig, bis aufs Blut, wenn es um Werte, um Überzeugungen geht. Religionen oder Ideologien arbeiten sich aneinander ab. Sie verteufeln sich gegenseitig. Regelrechter Hass lauert und bricht durch. Ein Energieverschleiss, wie er in der übrigen Natur unbekannt ist. Die feinsten kulturellen Unterschiede lassen uns Zähne fletschen wie ein Muttertier. Auch in Worten fechten wir heilige Kriege aus. Insgeheim liebäugeln wir mit der Ausrottung der gegnerischen Ansicht. Die Shoa bedeutet eine Wirklichkeit gewordene Phantasie, die alltäglich Menschen umtreibt. Wie sollte dieser Gleichmut für uns möglich sein? Unsere Überzeugungen, ob religiös oder politisch oder beides, kommen in unterschiedlicher Ausprägung daher: Es gibt Radikale, es gibt Gemässigte sowie sonstige Spielarten dazwischen. Gegnerische Überzeugungen schüren Konflikte, befeuern sie, radikalisieren Gemässigte, mässigen Radikale, wenn auch eher selten. Jahrhunderte der Aufregung liegen hinter uns. Von Gleichmut keine Spur. Dabei gäbe es auch für uns sehr wohl Gründe zu diesem Gleichmut. Wie immer braucht es etwas Nachdenken dazu. Zum Beispiel lässt sich die Tatsache anführen, dass keine Überzeugung je aus der Geschichte fällt. Anders gesagt: Alles kehrt immer wieder zurück, jede Überzeugung in ihrer Ausprägung, auch wenn eine davon zu einem bestimmten Zeitpunkt für überwunden gilt, etwa die des Kommunismus vor Jahrzehnten. Dabei klärt sich ebenfalls, dass in allen Kulturräumen die gleichen Überzeugungen in den gleichen Ausprägungen auftreten, wenn auch in verschiedene Narrative gekleidet.

Das Leben bewahrt alles.

Eine weitere Überlegung läge so nahe, aber uns hindert eine beinah animalische Sturheit, sie anzuerkennen: Bei jedem Konflikt nämlich steht, genau wie beim Riss einer Beute, das Leben immer auf beiden Seiten.

Fraglich aber, ob ich dank dieser Überlegungen auch im menschlichen Blick diesen Gleichmut entdecke. Dafür fällt etwas anderes auf: Die leuchtende Mitte des Auges bindet uns, ob bedrohlich oder liebevoll. Dabei ist es nur ein Loch.

Ein Nichts also.

Inmitten aufgescheuchter Lebendigkeit.