Es ist bitter, wenn eine Person zum Schluss kommt, sie habe ihr Leben falsch geführt. Bei einer zweiten Chance würde sie andere Entscheide treffen. Von Anfang an. Einem Menschen in dieser Misere ist kaum zu helfen. Darüber hinaus wird diese Person vereinsamen, denn niemand will mit so einer Düsternis aus freundschaftlicher Nähe zu tun bekommen. Dieses  Leid hängt aber wesentlich von einem bestimmten Menschenbild ab, das jemand selbstverständlich auf sich selbst anwendet. Ändert man das Bild, verschwindet vielleicht das Leid. Oder es wird abgemildert. Das klingt leicht, ist es aber nicht.

Selbst Gandhi sah sein Leben beinah als gescheitert an, als der indische Subkontinent strikt nach Religionen sortiert wurde. Pakistan, Indien. Gewiss lautete sein Selbstvorwurf, er habe wohl zu wenig getan, zu halbherzig auf die Sache Einfluss genommen. Wer in dieser Art leidet, ist sich also sicher, dass sein Leben besser verlaufen wäre, hätten er oder sie anders gehandelt.

Woher wollen die das denn wissen?

Habe ich alle Mittel bestmöglich eingesetzt? Das sind zwei Superlative in einem Atemzug: Alle und bestmöglich. Ein hoher Anspruch, der typisch ist für die Moderne. Ein Mittel hängt nicht nur von persönlichen Fertigkeiten ab, sondern auch von der Situation und ihren Teilnehmern, in der es zum Einsatz kommt. Nicht ohne Grund wird heute Kompetenz im Hinblick auf eine bestimmte Situation festgelegt. Wer Mittel in Erwägung zieht, muss also über sämtliche Kenntnisse verfügen, die für eine bestimmte Situation einschlägig sind. Das ist im Rückblick uneinlösbar. Und wer garantiert mir, dass ich selbst in der Gegenwart eine bestimmte Situation völlig durchblicke? Am wenigsten ich selbst.

Platon würde diese tragische Selbstgewissheit als Meinung durchgehen lassen, aber sicher nicht als Wissen. Eine Meinung, die im Übrigen ohne Bestätigung bleiben wird, da ein bestimmtes Leben sich unmöglich zweimal leben lässt. Die Meinung kann nie zu Wissen werden, sie ist also nichts wert. Und so ist es völlig unverhältnismässig, wenn man daran leidet. Wer aber auf ein scheinbar verpfuschtes Leben zurückblickt, sieht sich um eine Möglichkeit gebracht, auch wenn ihm unbekannt bleibt, wie es ausginge, könnte man das Rad zurückdrehen: Es ist die Last ungenutzter oder falsch genutzter oder übersehener Möglichkeiten, die viele im Alter oder schon früher bedrücken.

Wer also beklagt, dass er keine Chance mehr hat, sollte sich vor Augen halten, dass sein Gelingen wie immer nur zur Hälfte garantiert ist.

Dann sollte er auch sein Leiden halbieren. Wenn das ginge.

Immerhin hängen solche Leute der Überzeugung an, sie seien in der Lage, wirkmächtig auf ihr Leben Einfluss zu nehmen, obgleich ihre bittere Reue genau das Gegenteil belegt. Diese Überzeugung leitet sich vom modernen Menschenbild ab. Demnach hängt das Gelingen nur vom Willen ab und von der Anstrengung, die dazu nötig ist. Dieses Menschbild hat manche über sich hinauswachsen lassen. Ebenso verschuldet es am Laufmeter Psychosen.

Wenn wir jedoch annehmen, dass das Leben uns Menschen in erster Linie dazu braucht, dass es diesen Planeten verlässt, kann man jedes Gelingen und jedes Scheitern, so persönlich es auch scheinen mag, diesem einzigen Zweck untergeordnet sehen. Es ist dann eigentlich nichts Persönliches mehr an ihm. Das mag erleichtern. Die Erfolgreichen hingegen fühlen sich gekränkt. Sie wollen genauso eifrig, dass ihr Erfolg sich als persönlich herausstellt, wie Andere alles Erdenkliche überlegen, damit sie ihr Versagen nicht persönlich zu nehmen brauchen.

Unter dem Gesichtspunkt von der planetarischen Abdrift des Lebens vom Planeten erweist sich gar nichts als persönlich.

Jeder Triumph untersteht diesem Zweck. Aber auch jedes Versagen, denn es wirkt als Wegweiser für andere, verstärkt ihr Bemühen um Erfolg.

Zwei Sinnbilder dazu, nein, drei: Immer, wenn ein Bagger eine Schaufel voll Erde hochhievt, rieselt es an den Seiten herab. Ein geringer Bestandteil der benötigten Menge, der verlustig geht. Oder: Ein Brombeerstrauch prangt voller glänzend schwarzer Früchte, während ein paar verkümmert oder bräunlich angefressen vor sich hin faulen. Oder: Eine Fledermaus entfernt sich beim Verlassen der Höhle dummerweise zu weit vom Schwarm, vielleicht weil sie benommen ist infolge einer Entzündung. So wird sie von Greifvögeln spielend erlegt. In all diesen Situationen sehe ich ein Zusammenspiel von Zufall und Naturgesetz, bei dem nirgendwo Persönliches im Spiel ist, weder beim Versagen noch beim Triumph. Schliesslich sind Lebewesen, uns Menschen mit einbezogen, keine Automatiken, die perfekt, also berechenbar ablaufen. Sie haben ihre Eigenarten, die sich fortlaufend ändern können. Inder begreifen die menschliche Person nicht als Gegenstand, wie im abendländischen Denken üblich, sondern als Prozess. Auch die Wissenschaft nennt Lebewesen Systeme, durch die Materie fliesst. Da ist keine Regelmässigkeit, keine Berechenbarkeit zu erwarten, die nötig wäre, um in jeder beliebigen Situation das Bestmögliche nach Rezept herauszuholen. Ausserdem fehlt, wie betont, durchwegs die Gewähr, ob man diese Situation auch restlos überblickt, geschweige denn so weit wie nötig.

Die Welt ist launisch und wir genauso. Umso launischer gestaltet sich jegliches Zusammenspiel. Insgesamt eine planetarische Tatsache, die dem Leben zu entsprechen scheint.

Aus einem Zusammenspiel von Zufall und Naturgesetz übernehmen wir Aufgaben innerhalb der kulturellen Evolution, die über Jahrhunderte heranreift und so die planetarische Abdrift des Lebens früher oder später gleichsam ausschwitzt, wobei gerade ein Scheitern auf andere befördernd wirkt, gerade in der Summe mit anderen Fällen, sodass Andere ausgerechnet dank dieses einen denkwürdigen Beispiels über sich hinauswachsen und so dieses kosmische Projekt voranbringen.

Wie die einzelnen Bemühungen ihren Beitrag zur Abdrift leisten, wäre genau darzustellen.

Kulturelle Evolution bietet den Schlüssel dazu. Sie wirkt wie ein Sammelbecken. Oder wie ein Kochtopf auf Sparflamme. Mit einer Garzeit von Jahrhunderten.

Ob Versagen oder Triumph, das Leben ist immer an beidem beteiligt. Also schert es sich weder besonders um das Eine, noch um das andere.

Nur wir sind um unsere punktuelle Bedeutung in diesem kosmischen Ganzen so sehr besorgt. Und das scheint keine Schwäche zu sein, sondern wie vieles andere einfach nur nützlich für das Leben in seinem Fortkommen.