Immer mehr Leute empören sich über alles Mögliche. Das empört mich.

Gegenwärtig herrscht eine regelrechte Unkultur an Empörung. Geht jemand die Wände hoch, beklagt er sich darüber, dass das Fehlverhalten unter Mitmenschen zugenommen hat. Ihre Beschwerden lassen sich täglich vernehmen, wenn nicht stündlich: Die Nachbarn verhalten sich falsch, der Staat verhält sich falsch, die Lehrkraft sowieso, eine Ladenkette, die Weltgesundheitsorganisation verhält sich kreuzfalsch, genauso der hässliche Onkel mit seiner viel zu jungen Freundin, auch die Flurverwaltung, dies oder jenes Management und sein Verwaltungsrat obendrein. Der sich empörende Mensch beansprucht, in seinem Urteil realistisch zu sein. Aus seiner Sicht geht die Gesellschaft schleichend vor die Hunde. Andere finden, diese Leute würden einfach nur empfindlicher und regten sich über alles Mögliche auf. Und sie beklagen sich, dass diese Aufgeregtheit unter uns grassiert. Ist es nun die gleiche Empörung, wenn ich mich darüber empöre? Setze ich damit also diese Unkultur bloss fort? Eigentlich ja, denn das Ereignis des Sich-Empörens wird zahlenmässig um einen Fall angereichert. Streng genommen ist meine Empörung aber ein Vorfall zweiter Ordnung. Auch wenn ich mich beklage, die Leute beklagten sich zu oft, bleibt dieser Unterschied unscharf. Genauso gut jedoch könnte ich mich darüber empören, dass die Leute zuviel lachen. Und dies täte ich ohne selbst zu lachen. Oder ich beanstandete als dürrer Asket, die Leute frässen zuviel. Das ginge, ohne dass ich selbst einen Bissen über den Hunger verschlänge.

Also hat meine Empörung über Empörung eine andere Qualität.

Empörende sehen sich von Fehlverhalten umzingelt. Eigentlich müssten sie die vielen Idioten bemitleiden, die dafür verantwortlich sind. Ihre Empörung geht aber über den Ärger hinaus, den wir über einen Menschen ausschütten, der sich ungeschickt benimmt. Da steckt mehr Energie drin, als dafür angemessen wäre. Eher klingt es nach Hass. Nach Wut. Dabei sind es blanke Unterstellungen, die diesen unverhältnismässigen Verbrauch an Energie erklären. Die erste, die etwas harmlosere: Diese Idioten machen nicht nur Fehler, es ist ihnen auch gleichgültig. Und die zweite: Diese Idioten arbeiten gegen meine vernünftigen Interessen. Das kann immer auf Tollpatschigkeit beruhen. Aber die Unterstellung greift noch weiter. Denn diese Dümmlinge nehmen den Schaden an meiner Sache sogar in Kauf. Mehr noch, sie arbeiten gezielt dagegen. Also sind sie alle Böslinge.

Empörende mögen sich sachlich vorkommen. Dabei besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem Anspruch ihres harten Urteils und der Dürftigkeit ihrer Detailkenntnis zur Sachlage, über die sie sich empören. Vor Gericht jedenfalls würde die meiste Empörung kläglich abgeschmettert. Wer zwischen Tür und Angel sich Luft verschafft, vollzieht eigentlich ein Standgericht. Als handelte er aus Notwehr. Tatsächlich fühlen sich Empörende gerne angegriffen. Oder sie fühlen sich missachtet. Ihr Vorgehen, so sehr es stört, geschieht somit aus Verteidigung. Dieser Umstand ist im Auge zu behalten, wenn ich mich über Empörende empöre. Standgericht also. Das bedeutet ein Verfahren ohne Gutachten und ohne Verteidigung. Ein Standgericht setzt eine hohe Drucksituation voraus, damit es annehmbar wird, wie eben die Rechtsprechung an der Front. Ein Soldat, der sich von der Truppe entfernt, hofft vergebens auf Nachsicht bei der Verurteilung. Man darf sich glücklich schätzen, dass den Empörenden von heute solch wirkmächtigen Mittel vorenthalten sind. Sie griffen sonst hart durch, möchte man meinen. Eben wie beim Standgericht. Die Rede ist auch von Schnelljustiz oder sogar Blitzjustiz, was den Weg zu einem lynchartigen Übergriff kurz erscheinen lässt. Auch wirken Empörende immun gegen Bescheide, die eine Situation zunehmend klären, über die sie sich empören. Dazu ein handliches Beispiel aus Zeiten des Krieges: Kommt ihnen ein Fall von Fahnenflucht zu Ohren, schliessen sie allzu rasch auf Feigheit vor dem Feind. Stellte sich heraus, bei dem Verräter handelte es sich um einen Landwirten, der nach Hause eilte, da seine Gattin bei der Heuernte krankheitshalber ausfiel, dürfte dies auf das standesrechtliche Urteil keinen Einfluss nehmen. Die moralische Verurteilung hingegen wäre eine andere. Empörende scheinen zusätzliche Informationen gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie zeigen nicht einmal die Bereitschaft, sie zu suchen, sprich überhaupt anzunehmen, dass es zusätzliche Informationen geben könnte, die die Sachlage so klären, dass sie die Empörung abdämpft oder sogar hinfällig macht.

Wir wissen manches über eine Sachlage, die uns empört. Aber wir wissen nie, ob wir über sämtliche Kenntnisse verfügen, die für das harte Urteil bedeutsam wären.

Wir urteilen trotzdem. Und die Empörung verschafft uns Luft. Vielleicht liegt darin ihre Hauptaufgabe.

Mit Aufklärung jedenfalls hat diese Empörungskultur nichts zu tun. Da wäre also das notwendige Unwissen über die Vollständigkeit der Informationen zu dem Fall zu beanstanden, der Empörung hervorruft. Mir fällt es kaum ein, ich könnte meinen Ärger über ein Fehlverhalten abdämpfen, indem ich mir vor Augen führe, ich wüsste eben noch nicht alles Nötige, um den Fall zu verstehen. Überhaupt ist die Besonnenheit ausser Kraft gesetzt, die bei einem üblichen Strafverfahren zur Anwendung käme. Diese Besonnenheit gehört zum Einmaleins der Rechtsprechung. Da wird das Strafmass oder der Grad an Schuld dank zahlreicher Informationen genau auf die Sachlage abgestimmt: Wer aus Unwissenheit Fehler begeht, verdient eine mildere Strafe, als wenn jemand wider besseres Wissen handelt. Das gilt ebenso, wenn ich den Schaden anderer in Kauf nehme, ohne dass ich diese Folge unmittelbar beabsichtigt hätte. Auch besteht ein klarer Unterschied, nicht nur in rechtlicher, sondern auch in moralischer Hinsicht, ob jemand alternative Möglichkeiten für seine Ziele schlicht übersehen oder sie mit Absicht ungenutzt gelassen hat, was also die Vorsätzlichkeit verschärft und somit die Strafe erhöht und die entsprechende Empörbarkeit darüber.

Die Richtlinien, die dazu dienen, ein bestimmtes Strafmass festzulegen, sind dreierlei: Die Absicht des Böslings. Die alternativen Möglichkeiten, diese Absicht umzusetzen. Und sein Wissen darum sowie um die Folgen seines Tuns und eben Unterlassens für andere. Die alternativen Möglichkeiten könnte man als eine Art Reserve bezeichnen, die jemand nach seiner Einschätzung nutzt oder eben nicht. Wenn jemand einen Zwang nachweist, der ihn nötigte, einen bestimmten Weg zu gehen, bei dem er andere schädigte, hat Anrecht auf ein milderes Strafmass als der Bösling, der aus voller Absicht und bei bestem Wissen und Gewissen eine Möglichkeit unter anderen nutzt, als wählte er sie einfach aus, sodass andere zu Schaden kommen. Wer über Alternativen verfügt, handelt oder unterlässt etwas aus einer gewissen Entspanntheit heraus, die jenen abgeht, denen nur eine einzelne Möglichkeit in eng bemessener Zeit zur Verfügung steht.

Da fällt mir auf, dass im Falle einer Empörung, wie wir sie häufiger als auch schon zu Gehör bekommen, einfach so der übelste Fall angenommen wird: Die Person, die sich aufregt, geht davon aus, dass der Bösling sich bewusst gegen sie oder gegen andere entschieden hat, die ihr wichtig sind. Dass er sich über Alternativen hinwegsetzt, vorsätzlich zu ihrem Nachteil. Und das bedeutet, dass er trotz Reserven, die ihm klar sind, ausgerechnet jene Möglichkeit auswählt, die anderen Schaden bringt. Genau dies wäre das Böse schlechthin, zumindest aus rechtlicher Sicht:

Vorsätzliches Handeln oder Unterlassen, wider besseres Wissen und Gewissen sowie Handeln oder Unterlassen aus einer Reserve an Alternativen heraus, die allesamt als hinreichend, aber nicht als notwendig, jedoch ungehindert zur Verfügung stehen, wobei der Schaden anderer bewusst in Kauf genommen wird.

Ein äusserster Fall an Bosheit dient als Schablone alltäglicher Empörung, obwohl er vor Gericht unregelmässig bis selten vorkommt. Dies werte ich als ein Zeichen dafür, dass es sich weniger um ein vernünftiges Urteil, als vielmehr um eine Art Reflex handelt.

Die sonderbare Intensität, die Empörende in ihrer Aufgeregtheit an den Tag legen, erklärt sich von daher, dass sie den Akteuren, deren Vorgehen oder Unterlassen sie beklagen, genau diese äusserste Bosheit unterstellen, ohne dass sie wüssten, ob die genannten Werte, die vor Gericht einzeln ermittelt würden, wirklich zutreffen.

Dieses Verhalten ist übergriffig und vor allem unvernünftig.

Eine Art spättieres Verhalten, das als Vernunft auftritt, jedoch roh und unaufgeklärt das Leben unter Menschen schwierig macht.

Statt Empörung empfiehlt sich deshalb eher Mitleid oder aber Verständnis für Menschen, die sich unentwegt vom Leben übervorteilt fühlen.